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Ein Berliner Junge

Ein Berliner Junge

Titel: Ein Berliner Junge Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Adolf Damaschke
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Empfindlichkeit hat der Tante und vor allen Dingen der Mutter gewiß harte Stunden bereitet und ihr Ringen mit dem so kargen Wirtschaftsgeld unnötig erschwert. Auf der anderen Seite aber soll man vorsichtig sein mit derartigen Scherzen. Vater, der, soweit seine Heftigkeit es zuließ, mit den Verwandten mütterlicherseits stets auf gute Freundschaft hielt, sagte mir einmal, als wir an der Spree standen und die großen Obstkähne sahen: »Als ich jung verheiratet war, hatte Onkel Wilhelm solchen großen Kahn voll Holz nach Berlin gebracht. Mutter und ich besuchten ihn. Da sagte er zu mir: ›Nun, Schwager, wie ist's, willst du nicht diese Ladung Holz kaufen?‹ obwohl er wußte, daß ich dazu nicht in der Lage war. Das ist mir durch und durch gegangen. Ich habe ihn nie mehr besucht; ich habe ihn nicht mehr gesehen bis zu seinem Tode. Junge, denke daran, wie weh man armen Leuten tut, wenn man ihnen ihre Armut vor Augen führt.«
    Mir ist das eine tiefe Lehre gewesen. Man soll niemals, auch nicht in aller Freundschaft, Dinge sagen, die wunde Stellen berühren. Scherze auf Kosten anderer kann man begehen, wenn man weiß, daß der andere sich in seiner Stärke sicher zu fühlen und im Bewußtsein dieser Stärke solche Angriffe zu ertragen und abzuwehren vermag.
    Ja, die Armut! Wie oft habe ich in wissenschaftlichen Schriften seitdem gelesen vom Niedergang des Mittelstandes, von dem Verzweiflungskampf des kleinen, selbständigen Handwerkers. Was so in trockenen Zahlen dasteht und was dann in irgendwelchen künstlich gewonnenen »Ergebnissen« »wissenschaftlich« vertreten wird, das alles ist ja doch Fleisch und Blut, das ist ja doch Menschenglück und Menschenleben! Und wenn viele Freunde, die ehrlich heute an meiner Seite kämpfen, oft den Kopf schütteln über die Leidenschaftlichkeit, die auch heute noch über mich kommt, wenn es gilt, die Sache der ehrlichen Arbeit in Stadt und Land zu führen, so wissen sie eben nicht, wie lebendig die Not mit all ihren Demütigungen, mit all ihrer Angst und mit all ihrer Verheerung vor mir steht in Vaters unruhigem Schaffen, in Mutters blassem Gesicht.
     
     
     
    * * *
     

Großstadt-Nomaden
     
    Im Herbst 1876 gab Vater die Werkstätte auf. Wieder ein kleiner Handwerksmeister, der in dem großen Wirtschaftskampfe erlag! Was er in alter Treue und Sorgfalt schuf, edle Qualitätsarbeit, fand ihren Lohn nicht mehr. Nun wohnte im Hause ein merkwürdiges Tischlerehepaar, namens Pilentz. Der Meister hatte schon vor längerer Zeit seine Werkstatt aufgegeben und arbeitete allein, indem er in Privathaushaltungen bessere Möbel aufpolierte, erneuerte oder besondere Stücke anfertigte. Er lebte von dieser Arbeit, die ihn von Gehilfen unabhängig machte, scheinbar ganz gut. Jetzt erbte er in einer schlesischen Kleinstadt ein Haus und ein Geschäft und siedelte dorthin über. Er machte meinem Vater den Vorschlag, in seine Kundschaft einzutreten. Das war der letzte Anstoß, Werkstatt und Wohnung in der Rosenthaler Straße aufzugeben.
    Nun begann ein Leben, wie es nur die Großstadt kennt. Wir zählten gewiß zu den »ordentlichen Leuten«. Niemals sind wir auch nur mit einem Pfennig Miete im Rückstande geblieben. Und doch, welch ein wurzelloses Nomadenleben! In den folgenden zwanzig Jahren haben wir, soweit ich mich noch entsinnen kann, gewohnt in der Neuen Königstraße, in Neu-Weißensee, in der Neuen Jakobstraße, in der Metzer Straße, wieder in Neu-Weißensee, in der Zionskirchstraße, in der Friedrichstraße, in der Tempelherrenstraße Nr. 17 und in derselben Straße Nr. 3. Das war und ist das Schicksal der modernen Mietkasernenbewohner! Die Engländer haben ein Sprichwort: »Man kann einen Menschen durch eine schlechte Wohnung töten wie mit einer Axt.« Das Sprichwort stimmt nicht. Eine Axt ist noch eine ritterliche Waffe, und der Tod durch sie ist in der Regel schnell und leicht. Eine schlechte Wohnung aber tötet wie Opium oder ein anderes langsam wirkendes Gift, das zuerst Geist und Willen lähmt. Wie auch bei tapferer Gegenwehr in einem solchen Leben unwillkürlich alle Kulturansprüche sinken, zeigte mir ein Wort der Mutter in der Zionskirchstraße, einer der engen Mietkasernenstraßen im Norden Berlins. Wir bewohnten »natürlich« nur Stube und Küche. Auf demselben Flur mit uns lebte noch eine alleinstehende Frau in einem kleinen Zimmer, und da hatte Mutter nur einen Wunsch: »Hätten wir doch auch noch diese Kammer, so daß wir allein auf unserem Korridor wohnen könnten; -

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