Ein Berliner Junge
erzählt wurde, der Mann müsse auf ihren Befehl eine Fußbank oder einen Stuhl bringen, auf den sie dann stieg, um ihn mit Ohrfeigen abzustrafen, wenn er sich ihre Ungnade zugezogen hatte.
Dieses Haus wollten oder mußten meine Eltern verkaufen, und Mutter hat oft erzählt, wie sie einmal gerade noch fünf Silbergroschen gehabt habe und geschwankt, ob sie dafür Brot kaufen oder noch eine Anzeige im Intelligenz-Kontor in der Kurstraße aufgeben wolle. Sie wählte das letztere. Diese Anzeige hatte Erfolg. Meine Eltern verkauften das Haus - um zu hören, daß es der Käufer sechs Wochen später mit einem unverdienten Wertzuwachs von 5000 Talern, das sind 15 000 Mark, weiterverkauft habe. 5000 Taler, das war eine große Summe! Wer die zusammensparen wollte, einen Taler zu dem andern, der mußte viel arbeiten und viel entbehren. Vater und Mutter taten es, und es waren wohl glückliche Stunden, wenn Vater rechnete, daß er vielleicht 94 oder 95 Taler zusammen habe, und Mutter dann von dem so kargen Wirtschaftsgelde heimlich so viel erspart hatte, daß für 100 Taler irgendein mündelsicheres Papier gekauft werden konnte!
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Ein edler Betrüger
Diese Papiere wurden in dem alten Bankgeschäft von Securius im Roten Schloß erworben und hinterlegt. Ein höherer Bankbeamter dort nahm sich besonders freundlich Vaters an. Als er in dem großen Gebäude des Roten Schlosses ein eigenes Bankgeschäft eröffnete, wurde Vater sein Kunde und vertraute ihm seine Ersparnisse an. Eines Tages kam Vater ziemlich aufgeregt aus diesem Bankgeschäft zurück. Der Besitzer hätte ihm alle Papiere, die er dort hatte, das heißt seine ganzen Ersparnisse, zurückgegeben: Er wolle sie nicht haben; er solle sie wieder zu Securius tragen oder zu Hause aufbewahren! Auf Vaters verwunderte Frage: »Warum?« hätte er schroff erwidert: »Nehmen Sie alles und gehen Sie. Ich will nichts von Ihnen!« Vater war verletzt, er dachte, die Summe wäre zu klein, und brachte die Papiere wieder in das Bankhaus von Securius. Am nächsten Tage wurde bekannt, daß der Inhaber des neuen Bankgeschäfts flüchtig geworden war und die ihm anvertrauten Depots unterschlagen habe. An Vaters Geld aber, von dem er wußte, wieviel Arbeit und Entbehrung daran haftete, wollte er keinen Anteil haben! Ich weiß nicht, was aus ihm geworden ist. In dem Hinterhaus der Rosenthaler Straße aber wurde noch manchmal dankbar seiner gedacht!
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Ein dankbares Ehepaar
Ich sehe sie vor mir, die Photographie von einem alten Ehepaar, den Mann mit dem Eisernen Kreuz von 1815 geschmückt. Es hatte eine Hypothek, wenn ich nicht irre, von 200 Talern auf dem Haus in der Bellermannstraße. Als die beiden alten Leute starben, fand sich im Testament die Bestimmung, daß die Hypothek dem Tischlermeister Damaschke geschenkt werden solle, weil er stets so gewissenhaft seine Verpflichtungen erfüllt habe!
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Eine bittere Erinnerung
Es ist merkwürdig: die frohen Bilder der Jugend rauschen schnell vorüber; aber die, die von Unrecht zeugen, bleiben, und brennend steigt auch nach einem halben Jahrhundert noch mit ihnen ein bitteres Gefühl in uns auf. Ich mußte in der Woche etwa zweimal eine Familie Friedrich besuchen, entfernte Verwandte aus Lehnin, die in der Fischerstraße ein Haus und ein gutgehendes Milchgeschäft besaßen. Manchmal in den Ferien nahm mich der Onkel mit, wenn morgens in aller Frühe die Milchfässer vom Bahnhof geholt werden mußten. Für Mutter mußte ich in der Regel für einen Groschen Milch holen. Gewöhnlich nahm »Tante« den Groschen gar nicht, oder sie nahm ihn und gab das Doppelte oder Dreifache des gewöhnlichen Maßes. Einmal aber muß sie irgendeinen Ärger gehabt haben - und sie hatte in Geschäft und Familie mancherlei zu tragen. Der Laden stand voll Menschen. Ich reichte ihr meine Kanne. Tante: »Ach, du bezahlst ja doch nicht.« Ich fühlte, wie ich rot wurde: »Doch, hier ist mein Groschen!« »Dann will ich dir für einen Groschen Milch geben!« Und sie füllte wohl so viel ein, wie dem Geldwert entsprach. Ich machte, blutrot vor Scham, die Kanne zu und eilte hinaus, obwohl die Tante rief: »Aber Junge, es ist doch nur ein Spaß, bleib doch!« Ich aber sah mich nicht um, obwohl die Tante mir nachkam, sondern rannte mit meiner Kanne nach Hause, wo Mutter zuerst gar nicht glauben wollte, daß ich von Tante Friedrich käme. Darauf wurde der Familienverkehr natürlich abgebrochen. Meine törichte
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