Ein bisschen blutig - Neue Gestaendnisse eines Kuechenchefs
dass wir mehr Geld für Lebensmittel ausgeben sollten. Andererseits hatte Waters noch nie ein Gespür für den richtigen Ton oder das perfekte Timing.
Vielleicht sollte ich zunächst sagen, dass ich eigentlich auch von einer Welt träume, die der Wunschvorstellung von Alice ziemlich nahekommt. Eine Stadt auf einem Hügel - oder mehrere Städte auf Hügeln - mit einer unverbauten Aussicht auf eine schöne Landschaft mit kleinen, schmucken Bauernhöfen in Familienbesitz, die biologisches, saisonales und nachhaltiges Obst und Gemüse anbauen, das typisch ist für die Region. Gesunde, glückliche, antibiotikafreie
Tiere grasen friedlich und düngen die Wiesen mit ihrer vollkommen geruchlosen, organischen Scheiße, die wieder in die Nahrungskette einfließt, damit weitere wundervolle Sachen wachsen können … Die Schulkinder bekommen jeden Tag eine gesunde, ausgewogene Biomahlzeit, perfekt zubereitet von glücklichen, sich selbst verwirklichenden und erleuchteten Köchen. Böse Anwälte, Börsenmakler und Vizepräsidenten für Entwicklung bei Bruckheimer Productions steigen aus ihrem Beruf aus und kehren in Scharen in dieses herrliche Agrarwunderland zurück, um die Felder zu bestellen und dabei bessere Menschen zu werden. In diesem neuen Zeitalter der Aufklärung verkümmern die dunklen Mächte des Fast Food und gehen schließlich zugrunde - weil sich die arbeitenden Massen von ihnen abgewandt haben und zwischen ihren verschiedenen Jobs lieber noch einmal schnell nach Hause eilen, um ihren Kindern ein Brennnesselrisotto zu kredenzen. Alles wäre sauber und sicher und täte niemandem weh. Und es sähe aus wie … es sähe ein bisschen aus wie Berkeley.
Oder Italien. Natürlich nicht das echte Italien. Das Italien von den Weinetiketten. Das Italien der romantischen Komödien, wo einsame und schwermütige geschiedene Frauen mit kräftigen jungen Handwerkern im Bett landen, die Bandanas auf dem Kopf tragen und mit charmantem Akzent sprechen. Das Italien aus der Fernsehserie I Love Lucy, wo die italienischen Bauern die Trauben noch von Hand lesen und die Maische mit den Füßen stampfen.
Wenn man nach Italien reist, merkt man jedoch schnell, dass die Italiener nicht mehr viele Trauben pflücken und schon gar nicht stampfen. Sie pflücken auch keine Tomaten
- oder Oliven - und scheren auch nicht mehr ihre Schafe selbst. Die Tomaten und Oliven werden von unterbezahlten Afrikanern und Osteuropäern geerntet, Saisonarbeitern, die eigens dafür ins Land kommen - dafür werden sie dann das restliche Jahr über dämonisiert und beschimpft. (Mit Ausnahme der Nebensaison, wenn sie Autofahrern einen blasen, wie man heutzutage in den Außenbezirken selbst der kleinsten italienischen Gemeinden erleben kann.) Die gepriesenen Böden Italiens existieren tatsächlich - je nachdem, wo man sich aufhält und wo man wohnt. Wenn man in der Nähe von Neapel lebt, ist es gut möglich, dass die eigenen Olivenhaine als gar nicht so geheime Giftmülldeponie für Industrieabfälle aus dem Norden herhalten müssen. Die wahren Hüter der Erde sind hier weder Köche noch Großmütter noch Anhänger von Slow Food. Sie gehören einer Bruderschaft mit Sitz in Neapel an, der Camorra. Und der alte Mann, der in seinem Garten im Chianti Oliven anbaut, verdient mit dem Verkauf von Olivenöl wahrscheinlich auch nicht mehr seinen Lebensunterhalt. Den verdient er, indem er sein Haus an Deutsche vermietet.
Wer also wird die Elysischen Gefilde aus Alices Zukunftsträumen bestellen?
Bestimmt nicht ihre Nachbarn in Berkeley - deren durchschnittliches Haushaltseinkommen derzeit bei etwa 85 000 Dollar im Jahr liegt. Allenfalls mit vorgehaltener Pistole. Und bei den von Waters so gern genannten Schlagwörtern wie »Reinheit« und »Vollwertigkeit« hört man ein bisschen den Tritt marschierender Stiefel heraus, oder nicht? Dieses Sendungsbewusstsein, der potenziell gefährliche Mangel an Selbstzweifeln, die Art von Gerede, die in der Geschichte
schon so oft zu Aktionen »zum Wohle des Volkes« geführt hat. Zugegeben, mein Vergleich von Alice mit »Pol Pot in einem Muu’muu’« war übertrieben und weit hergeholt, man sollte jedoch nicht vergessen, dass der Diktator einst praktizierender Buddhist war und an der Sorbonne studiert hatte. Vielleicht hatte er mit seinem grausamen Vorhaben, Kambodscha zurück in die Steinzeit zu befördern, das in einem Völkermord mündete, ursprünglich auch einmal nur das Beste für sein Volk im Sinn.
Wer wird die Felder
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