Ein bisschen blutig - Neue Gestaendnisse eines Kuechenchefs
unausgesprochene Frage: Wie kann es sein, dass ein durchgeknalltes Hippiemädel eine so bedeutende Ära in der Gastronomie begründet haben soll? Und doch sind viele männliche Köche
an die Spitze gelangt, indem sie über Leichen gingen, während ihre Untergebenen und Kollegen auf der Strecke blieben - ohne Schuld auf sich zu laden. Bei Alice wird die Frage gestellt - mit einer gewissen Feindseligkeit -, weil sie überlebt und Erfolg gehabt hat, während viele ihrer damaligen Hippiefreunde scheiterten. Sie besaß gar die Frechheit, Geld zu verdienen. Und zu erkennen, oder zumindest zu akzeptieren, dass sich ihr Traum in einer Kommune nicht weiterentwickeln, geschweige denn überleben konnte.
Wer immer noch versucht, »das wahre Genie hinter alldem« zu finden - und dabei die alten Speisekarten vom Chez Panisse studiert, etwa mit Jeremiah Tower als Küchenchef oder nach seiner Zeit -, kann genauso gut wacklige Aufnahmen vom Grashügel des JFK-Attentats anstarren. Wie beim Attentat auf den Präsidenten spricht vieles für einen zweiten Schützen. Aber wenn man sich zu lange damit beschäftigt, entgehen einem das eigentliche Geschehen und seine Folgen.
Alice Waters ist immer noch da. Jeremiah Tower nicht.
Alice ist allgemein als »Mutter von Slow Food« bekannt - und wird es wahrscheinlich immer sein. Jeremiah Tower ließ zu, dass er zu einer Fußnote der Geschichte wurde.
Und die Geschichte wird, wie man so schön sagt, nun einmal von den Siegern geschrieben.
Helden und Schurken
F ergus Henderson ist ein Held.
In bester Heldentradition wäre es ihm höchst peinlich, das zu lesen. Zum einen ist er Engländer - zum anderen geradezu krankhaft bescheiden und resistent gegen Lobhudelei. Sein Restaurant St. John war ursprünglich als ebenso bescheidenes Lokal gedacht: ein schlichter weißer Raum in einer ehemaligen Räucherei, wo ein paar gleichgesinnte Landsleute traditionelles englisches Essen genießen und französischen Bordeaux trinken konnten. Ich bin mir fast sicher, dass er ebenso bescheidene Hoffnungen hegte, was den Erfolg seines Buchs Nose to Tail Eating - A Kind of British Cooking anging, einer Sammlung von Rezepten und seinen Überlegungen dazu.
Dennoch gilt Nose to Tail Eating mittlerweile als zeitloser Klassiker, als Sammlerstück, als unverzichtbar für jeden Koch auf der Welt, der etwas auf sich hält, als Bibel der wachsenden Schar der Innereienfans, als Sammelruf für die Schlacht, die derzeit die kulinarische Welt verändert (wenn auch in Zeitlupe). Das Restaurant St. John, ein schmuckloser Raum, in dem spärlich garnierte Gerichte der ländlichen
Küche Englands serviert werden, wird weiterhin überschwänglich gelobt (gelegentlich so überzogen, dass es schon lächerlich wirkt) und als »eins der besten Restaurants der Welt« bezeichnet - vor den Gourmettempeln der Spitzengastronomie, die diese offiziellen Ehrungen (rein handwerklich) weit mehr verdient hätten. Ich glaube, Fergus hat sogar einen Orden von der Queen bekommen (für seine Verdienste für die Krone), was genauso verrückt ist, wenn man bedenkt, dass er eigentlich Architekt ist, der den Job hingeschmissen und angefangen hat, Bistroessen zu kochen, um sich bald darauf auf das Bauernessen zu spezialisieren, das seine Großmutter früher auftischte.
Aber er ist ein Held. Dass er mein Held ist, ist allgemein bekannt. Seit meinem ersten Essen im St. John, als ich in der Küche auf die Knie fiel und etwas unglaublich Idiotisches brabbelte wie »Du ROCKST!!!« (Fergus war an dem Abend nicht einmal da), habe ich mich bei jeder Gelegenheit schamlos in seinem Ruhm gesonnt. Ich bin ein Fan, ein Jünger, ein Verehrer und Fürsprecher für alles, was mit Henderson zu tun hat. Ich bin ein wahrer Gläubiger.
Ich glaube, dass Fergus Henderson in einer Art, wie es bisher nur wenige Köche schafften, der Gesellschaft an sich gut tut. Anders als alle Köche, von denen ich je gehört habe, beeinflusst er Leute, die noch nie im St. John gewesen sind, nie etwas von ihm gegessen haben, ganz sicher nie sein Buch gelesen und keinen blassen Schimmer haben, wer zum Geier eigentlich dieser Fergus Henderson ist. Er hat, wenn auch unbewusst, Generationen von Küchenchefs und Köchen ermöglicht, ihrem Herzen so zu folgen, wie es noch vor ein paar Jahren undenkbar gewesen wäre. Indem er einfach tut,
was er immer tut, inspiriert er andere, Gerichte auf ihre Speisekarte zu setzen und Zutaten zu verwenden, an die sie sonst nie gedacht hätten, wenn er sie nicht
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