Ein bisschen blutig - Neue Gestaendnisse eines Kuechenchefs
konventionellen Sinn war? Wenn man sich heute die einst goldenen Zeiten in Berkeley ansieht, ist es völlig unwichtig, wer die Revolution in Gang gebracht oder welchen Anteil daran gehabt hat. Ob das Genie, das praktisch die Californian Cuisine erfand, aus der dann die Neue Amerikanische Küche und die Saisonale /Regionale Küche entstanden, wodurch sich die Speisekarten und Essgewohnheiten für immer veränderten, ob dieses Genie nun Alice hieß oder Jeremiah Tower - oder bereits Jahre zuvor Joe Baum, DAS SPIELT KEINE ROLLE.
Eins ist klar: Was immer auch geschah, es »geschah«, es setzte sich durch, fand den Weg aus Alices Restaurant und verbreitete sich mit rasender Geschwindigkeit. Alice schuf einen Ort, wo etwas wirklich Wichtiges entstand, unter der Beteiligung einiger sehr talentierter, sehr kreativer Leute - die in einem anderen Rahmen oder einer anderen Konstellation wahrscheinlich nicht so weit gekommen wären. Ihr Restaurant war wirklich die Wiege einer Revolution. Geografisch betrachtet, können daran kaum Zweifel bestehen.
Sicher ist auch, dass Alice französisches Essen - und seine Bedeutung für uns - so zu schätzen wusste, wie es nur wenige andere zu der Zeit taten. Und sie setzte sich dafür mit einer Leidenschaft ein, die in Amerika völlig neu war. Damals, als der Traum noch neu war und Chez Panisse gerade erst anfing, war das Restaurant demokratisch, ganzheitlich,
chaotisch und aberwitzig, aber auch bewundernswert unrentabel. Hätte jemand mit nur einer Spur von Geschäftssinn versucht, was Alice versuchte, hätte es nie funktioniert. Das war ganz klar eine feine und gute Sache.
Alice findet es wichtig, was wir essen. Ich auch. Sie findet, es ist das Wichtigste auf der Welt. Ich nicht. Aber ich bin mir ziemlich sicher, dass wir beide auf der Grundlage dessen, was man essen soll, wichtige Entscheidungen in unserem Leben getroffen, Freunde gewonnen und verloren haben.
Alice findet, dass Bauern mehr Geld verdienen sollten - indem sie Sachen anbauen, die gut schmecken und gut für uns sind. Wer könnte etwas dagegen haben? Ich mag Bauernhöfe. Aber ich möchte nicht auf einem Hof arbeiten. Ich habe auch so meine Zweifel, ob Alice das will. Da haben wir schon wieder was gemeinsam.
Sie findet, und ich finde das auch, dass wir wissen sollten, was direkt vor unserer Haustür angebaut und produziert wird, und dass wir das unterstützen sollten - indem wir gute regionale Produkte kaufen und essen, damit mehr davon angebaut wird. Ich sehe das bis zu einem gewissen Punkt auch so. Andererseits habe ich keinen Garten.
Erstaunlicherweise isst Alice Fleisch und hat auch immer Fleisch gegessen. Ihre Vorliebe für Foie gras steht völlig außer Frage. Seit Jahrzehnten befürwortet sie mitten in Berkeley den Verzehr von Fleisch, ohne sich zu entschuldigen oder zu rechtfertigen. Tiere sind für sie Nahrungsmittellieferanten und nicht etwas, dem man eines Tages das Wahlrecht geben sollte. In dieser Hinsicht ist es ihr sehr gut bekommen, dass sie über den Dingen schwebt und die aktuellen Debatten nicht mitbekommt.
Ihre Scheinheiligkeit verstellt den Blick auf ihre wahren Tugenden. Denn das eigentlich Wunderbare an Alice ist, dass sie ein Genussmensch ist. Wenn man sieht, wie Alice den Verzehr regionaler Produkte predigt, während sie selbst in Seeigelrogen von der Insel Hokkaido oder Foie gras aus der Gascogne schwelgt, weiß man zumindest, dass sie das Gute wirklich zu schätzen weiß. Es ist vielleicht strategisch unklug und völlig überzogen und untergräbt ihre eigenen Argumente, wenn sie in einer Fernsehsendung ein frisch gelegtes Bioei über dem offenen Feuer für Leslie Stahl brät - aber ich wette, das Ei schmeckt verdammt gut.
Was Alice Waters so anziehend macht, ist ihre ansteckende Begeisterung für den Genuss. Dank ihr sind Lust, Gier, Hunger, Selbstbefriedigung und Fetischismus positiv besetzt. Wenn Alice einem ein Bund Radieschen zeigt, will man sie sofort haben . Wo haben sich diese Radieschen bisher vor mir verborgen? Ich brauche sie!
Wen kümmert es, ob sie das Heimlich-Manöver beherrscht? Kannte Gandhi das Heimlich-Manöver? Oder Bono?
Beim Durchblättern einer kürzlich erschienenen Biografie stieß ich auf den vielzitierten Vorwurf, Alices Karriere basiere darauf, dass sie die Lorbeeren für andere eingestrichen habe.
Woraufhin ich - wenn auch widerwillig - fragen muss: Welcher Koch hat das - auf die eine oder andere Weise - noch nicht getan? Hinter dem Vorwurf steht die
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