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Ein bisschen blutig - Neue Gestaendnisse eines Kuechenchefs

Titel: Ein bisschen blutig - Neue Gestaendnisse eines Kuechenchefs Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Anthony Bourdain
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amerikanischen Koch, dem sich die Bilder und Erklärungen nicht ins Hirn eingebrannt haben. Mit Ausnahme von Alice natürlich.
    Tom Colicchio, der sich eben nicht nur im Fernsehstudio auskennt, sondern auch in einer Küche, wusste sofort, was zu tun war. Er trat hinzu, setzte die Faust an der richtigen Stelle an, löste den verschluckten Brocken aus der Luftröhre und rettete Joan Nathan das Leben.
    Und damit stellt sich die Frage: Ist Alice überhaupt Köchin? War sie je Köchin - im konventionellen Sinne des Wortes? Ich für meinen Teil kann, nachdem ich alle Berichte, offizielle wie inoffizielle, über Alices Laufbahn und die Geschichte von Chez Panisse studiert habe, keinen einzigen Hinweis darauf finden, dass sie je Köchin gelernt hat. Und doch wird sie voller Bewunderung Jahr für Jahr von Leuten als Köchin bezeichnet, die es besser wissen müssten.

    Aber wenn sie keine Köchin ist, was ist sie dann? Und warum darf sie mich dann so ärgern? Warum höre ich ihr überhaupt zu? Was kümmert es mich?
    Da ist sie wieder. Diese leise, liebliche Stimme in meinem Kopf, die mir sagt: »Alice hat recht.«
    Alice … hat … mit … allem … recht …
    Zugegeben, es ist die gleiche Stimme, die mich einst immer wieder dazu überredet hat, mir in überfüllten Clubs, wo es nach schlechtem mexikanischem Gras roch, stundenlang die Band Hot Tuna anzusehen. Wenn man unbedingt einen Vergleich braucht, klingt die Stimme in meinem Kopf wie David Crosby, wenn er gerade »Almost Cut My Hair« singt (ein Song, der mich immer noch, tief in meinem Inneren, haltlos sentimental macht). Die Stimme ist nicht totzukriegen. Sie sagt: »Scheiß auf die Realität, Mann - lebe den Traum. Let your freak flag fly …«
    Nur weil die Gegenkultur, die »Revolution«, all die Hoffnungen und Träume aus den Sechzigerjahren vom übermächtigen und undurchdringlichen »System« korrumpiert, vereinnahmt und schließlich zerstört wurden - was wir eigentlich von Anfang an hätten wissen müssen -, heißt das ja nicht, dass es, zumindest eine Weile, nicht auch schön war, oder? Ein bisschen was wurde trotz allem besser, oder nicht? Mir fällt zwar gerade nicht ein, was genau das war, aber ich bin mir sicher, dass die Welt irgendwie besser geworden ist, trotz des ganzen Unsinns und der Maßlosigkeit. Trotz der Entwicklung, die manche Dinge nahmen.
    LSD hat mein Bewusstsein auf jeden Fall ein bisschen erweitert. Es hat mich dazu gebracht, die Welt aus Perspektiven zu betrachten, auf die ich sonst wahrscheinlich nie
gekommen wäre. Ein paar Züge »Purple Haze« und die ersten Takte von »Court of the Crimson King« verhalfen mir zu einer Form der Erleuchtung, da bin ich mir sicher. Das und ein paar Schallplatten sind mir aus den Sechzigerjahren bis heute geblieben. Vielleicht ist LSD eine gute Metapher für Alice. Ich will heute nichts mehr davon wissen - aber ich bin froh, dass es das Zeug früher gab. Und womöglich bin ich dank der Erfahrung ein etwas besserer Mensch.
    In Gedanken streite ich mich ständig mit Alice, eine anhaltende Diskussion, die sie immer gewinnt. Wie im Leben auch. Als ich sie vor einiger Zeit bei einer Podiumsdiskussion traf, war ich voller Energie und zu allem bereit. Ich hatte mich auf ein Kräftemessen vorbereitet, ihre Biografien noch einmal gelesen, Zeitzeugenberichte studiert und jede harmlose Aussage zurückverfolgt, die sie einmal getätigt hatte.
    Aber da saß sie dann, eine nette alte Dame mit einem Armvoll (im wörtlichen Sinn) Lebensmittel und einem Gesichtsausdruck, den man nur als heiter und gelöst bezeichnen kann … Sie schwebte durch den Raum, griff meine Hand mit beiden Händen und lächelte mich warmherzig an. In dem Moment wusste ich, dass ich ihr nie die Pistole an die Schläfe setzen und den Abzug drücken könnte.
    Vielleicht ist das eigentlich Wichtige ja Alices Traum. Vielleicht spielt es keine Rolle, ob er uns über das bereits Erreichte hinausführt - oder ob er uns in die Irre führt. Der Schönheit der ursprünglichen Idee kann das nichts anhaben.
    Vielleicht ist der große Gewinner, der das Gold am Ende von Alices Regenbogen einstreicht, die Biosupermarktkette Whole Foods mit ihren über fünfzig Kassen und ihrer
Scheinheiligkeit zu jedem Preis. Am Ende gewinnen immer die Bösen, stimmt’s? Aber das kann Alice nicht geahnt haben.
    So betrachtet, ist Alice Waters gar nicht so schlimm.
    Wen kümmert es, wie »großartig« das Chez Panisse heute ist? Oder ob Alice Waters je eine »Köchin« im

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