Ein Blatt Liebe
Gott, ich kenne die Welt wenig,« fuhr der Priester mit
leichter Verlegenheit fort, »aber ich weiß doch, daß eine Frau sehr
gefährdet ist, wenn sie ohne Schutz bleibt. Kurz und gut: Sie sind
zu allein, und diese Einsamkeit, in die Sie sich vergraben, ist
nicht gesund, glauben Sie es mir! Es wird, es muß ein Tag kommen,
an welchem Sie davon Kummer haben werden … «
»Aber ich klage doch nicht, ich fühle mich doch ganz wohl, so
wie ich bin!« rief Helene lebhaft.
Der alte Priester schüttelte seinen großen Kopf.
»Gewiß, alles schön und gut. Sie fühlen sich vollkommen
glücklich, ich verstehe das. Bloß weiß man auf diesem abschüssigen
Pfade der Einsamkeit und Träumerei nicht, wohin man geht … Oh!
Ich kenne Sie, Sie sind unfähig, Böses zu tun … Aber Sie
könnten doch am Ende früher oder später Ihre Seelenruhe
verlieren … Eines Morgens würde es zu spät sein; der Platz,
den Sie um sich und in sich leer lassen, würde von irgendeiner
schmerzvollen uneingestandenen Empfindung besetzt sein.«
Im Schatten war in Helenes Antlitz die Röte
gestiegen. Der Abbé hatte in ihrem Herzen gelesen? Kannte er die
Verwirrung, die in ihr aufkeimte? Jene innere Erregung, die ihr
Leben erfüllte und die sie selbst bisher nicht hatte wahrhaben
wollen? Die Arbeit entfiel ihren Händen. Eine Weichheit ergriff
sie, sie erwartete vom Priester fromme Stimmung, die ihr endlich
gestatten sollte, laut jene unbestimmten Dinge zu gestehen und zu
schildern, die sie im Grunde ihres Seins zurück dämmte. Da er alles
wußte, mochte er fragen, sie wollte versuchen, zu antworten.
»Ich gebe mich in Ihre Hände, mein Freund,« flüsterte sie. »Sie
wissen doch, daß ich auf Ihr Wort immer gehört habe.«
Da bewahrte der Priester einen Augenblick das Stillschweigen der
Sammlung. Dann sagte er schwer und ernst:
»Meine Tochter! Sie müssen wieder heiraten.«
Helene blieb stumm, die Hände übereinander geschlagen, sitzen in
der Bestürzung, in die ein solcher Rat sie brachte. Sie hatte
andere Worte erwartet, begriff nicht mehr. Der Abbé setzte ihr die
Gründe auseinander, die für eine Wiederverheiratung sprechen
mußten.
»Denken Sie doch, Sie sind noch jung… Sie können nicht länger in
diesem abgelegenen Winkel von Paris bleiben; Sie wagen ja kaum
auszugehen. Sie müssen beide in das gesellige Leben zurück, wenn
Sie nicht später einmal Ihre Vereinsamung bitter bereuen wollen.
Sie selbst merken die langsame Arbeit dieser Abgeschlossenheit
nicht, aber Ihre Freunde sehen Ihre Blässe und machen sich
Gedanken.«
Der Priester hielt bei jedem Satze in der Hoffnung ein, daß sie
ihn unterbrechen und seinen Vorschlag erörtern würde. Aber Helene blieb kalt, wie zu Eis
verwandelt.
»Ohne Zweifel, Sie haben ein Kind. Das ist immer ein wenig
schwierig. Sagen Sie mir, ob nicht im Interesse Jeannes die feste
Hand eines Mannes hier von Nutzen sein würde … Oh! Ich weiß,
man müßte jemanden von vollkommener Güte finden, der ein wahrer
Vater wäre … «
Helene ließ ihn nicht zu Ende reden. Mit brüsker Abweisung sagte
sie rauh:
»Nein, nein! ich will nicht … Was für einen Rat geben Sie
mir da, mein Freund! Niemals, verstehen Sie, niemals!«
Ihr Herz empörte sich – sie war selbst von der Heftigkeit ihrer
Weigerung erschreckt. Sie empfand die Scham einer Frau, die ihr
letztes Gewand niedergleiten fühlt.
Unter dem forschend lächelnden Blick des alten Seelsorgers
wehrte sie sich:
»Aber ich will nicht! Ich liebe niemand!«
Und als er sie noch immer ansah, glaubte sie, daß er die Lüge
auf ihrem Gesichte lesen könne. Sie stammelte errötend:
»Denken Sie doch, vor kaum vierzehn Tagen erst habe ich die
Trauer abgelegt … Nein, das ist nicht möglich.«
»Meine Tochter,« sprach ruhig der Priester, »ich habe lange
überlegt, bevor ich jetzt spreche. Ich glaube, daß Ihr Glück da
ist … Beruhigen Sie sich! Sie werden niemals gegen Ihren
Willen handeln.«
Die Unterhaltung stockte. Helene versuchte die Widerworte, die
sich ihr auf die Lippen drängten, zu unterdrücken. Sie nahm ihre
Arbeit wieder auf, machte mit gesenktem Kopf einige Stiche, und
inmitten des Schweigens hörte man Jeannes Flötenstimme vom Eßzimmer
her: »Ach, lieber Freund, mach mir doch ein
Pferd, das ich vor den Wagen spannen kann.«
Herr Rambaud machte dem Kinde oft die Freude, Figuren aus Papier
zu schneiden.
»Mein liebes Kind!« antwortete er, »Pferde sind schwer zu
schneiden. Aber wenn du willst, will ich dir zeigen,
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