Ein Blatt Liebe
vor einer Tasse dampfender
Fleischbrühe. Rosalie, der Tür den Rücken zugewendet, schnitt ihm
ein paar lange Brotschnitten ab.
»Da, da iß, mein Kleiner. Du marschierst zu viel, das höhlt dir
ja den Magen aus … So! hast du genug oder willst du noch
mehr?«
Und sie umfaßte ihn mit einem zärtlich besorgten Blick. Zephyrin
setzte sich breitspurig vor die Tasse und verschlang die erste
Schnitte mit einem Haps. Sein hafergelbes Gesicht wurde rot im
Dampfe der Fleischbrühe, der es badete.
»Sapperlot! Was für eine Kraft! Sage mal, was tust du eigentlich
in die Brühe?«
»Warte, wenn du die Birnen gern ißt … «
Aber als sie sich umwandte, gewahrte sie ihre Herrin. Rosalie
stieß einen leisen Schrei aus. Beide blieben wie versteinert. Dann
entschuldigte sich Rosalie mit jähem Wortschwall.
»Es ist mein Anteil, Madame, wahrhaftig! ich würde mir keine
Brühe genommen haben. Glauben Sie mir, bei allem, was mir heilig ist! Ich hab zu ihm gesagt:
›Wenn du meinen Anteil an der Suppe haben willst, will ich ihn dir
geben.‹ Na, du, so rede doch! Du weißt doch, daß es so ist und
nicht anders!«
Und beunruhigt vom Schweigen ihrer Herrin fuhr sie rührselig
fort:
Er war zum Sterben hungrig, Madame; er hatte mir eine rohe Möhre
wegstiebitzt … man füttert sie gar so schlecht! Und dann
denken Sie doch: wie weit er gelaufen ist, den ganzen Fluß entlang,
ich weiß gar nicht einmal wo überall – Sie selbst, Madame, würden
zu mir gesagt haben: ›Rosalie, gib ihm doch eine Tasse Brühe.‹«
Angesichts des kleinen Soldaten, der mit vollem Munde dastand,
ohne daß er zu schlucken wagte, konnte Helene nicht streng
bleiben.
»Nun, meine Tochter! Wenn der Bursche Hunger hat, wird man ihn
schon zum Essen bitten müssen – ich erlaube es dir.«
Sie hatte angesichts dieser beiden jungen Leute jene Rührung
gefühlt, welche sie schon einmal veranlaßt, Milde zu üben. Die
Liebe der beiden hatte eine so ruhige Sicherheit, daß sie die
schöne Ordnung des Küchengeräts nicht im mindesten störte.
»Sag, Mama,« fragte am Abend Jeanne nach langer Überlegung,
»umarmt Rosalie denn ihren Vetter niemals, warum denn nicht?«
»Und warum sollen sie sich denn umarmen?« sagte die Mutter.
»Wenn ihr Geburtstag ist, da werden sie sich schon umarmen …
«
Kapitel 6
Nach der Suppe sagte Helene an ihrem heutigen Dienstag:
»Welch ein Regenguß! Hören Sie? Meine armen Freunde! Sie werden
heute abend gut eingeweicht.«
»Oh! ein paar Tropfen!« sprach der Abbé leise, dessen Soutane
schon bis auf die Schultern durchnäßt war.
»Ich habe einen guten Schritt,« meinte Herr Rambaud, »aber ich
bin trotzdem meinen Schlendrian gegangen; ich liebe so ein
Wetter … Übrigens hat man ja auch seinen Schirm.«
Jeanne überlegte, den ernsten Blick auf ihren letzten Löffel mit
Makkaroni gerichtet.
»Rosalie meinte, Sie würden nicht kommen, wegen des schlechten
Wetters. Mama aber sagt, Sie würden schon kommen … Oh! Sie
sind nett, Sie kommen immer.«
Man lächelte bei Tisch. Helene nickte den beiden Brüdern
zärtlich zu. Draußen klatschte der Regen mit dumpfem Prasseln, und
plötzliche Windstöße rüttelten an den Fensterläden. Der Winter
schien gekommen. Rosalie hatte die roten Ripsgardinen zugezogen;
das kleine wohlverwahrte Eßzimmer, vom matten Scheine der weißen
Hängelampe erhellt, gewann inmitten des stürmischen Wetters draußen
eine süße vertrauliche Heimeligkeit. Und in diesem Frieden
plauderten die vier, ohne sich zu beeilen, ruhig der freundlichen
Dienste der Köchin wartend.
»Ach! Sie haben gewartet! Um so schlimmer,«
meinte vertraulich Rosalie, als sie mit einer Schüssel eintrat. »Es
sind Rostbratenscheiben für Herrn Rambaud, und so etwas muß doch
bis zuletzt aufgespart werden.«
Herr Rambaud gab sich als Feinschmecker aus, um Jeanne zu
amüsieren, auch Rosalie zuliebe, die auf ihr Kochtalent sehr stolz
war. Er wandte sich nach ihr um und fragte:
»Ei, ei, was haben Sie heute wieder gemacht? Sie bringen immer
Überraschungen, wenn ich keinen Hunger habe … «
»Oh! Drei Gänge gibt's wie immer, nicht mehr … Nach den
Rostbratenschnitten sollen Sie einen Hammelrücken und Brüsseler
Sprossenkohl haben … «
Aber Herr Rambaud sah Jeanne blinzelnd an. Das Kind lachte sich
ins Fäustchen und schüttelte den Kopf, als ob es sagen wollte: Die
Köchin lügt. Dann schnalzte sie zweifelnd mit der Zunge, und
Rosalie fing an, ärgerlich zu werden.
»Sie glauben mir nicht, weil das
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