Ein Blatt Liebe
ihrem Salon. Sie beugte
sich behaglich vor und plauderte weiter:
»Man sieht Sie ja gar nicht mehr. Ich wäre längst zu Ihnen
heraufgekommen … Sie sind doch wenigstens nicht krank
gewesen?«
»Nein, danke … Hatte allerlei zu tun … «
»Hören Sie! morgen müssen Sie unser Tischgast sein … Wir
sind ganz unter uns … «
»Sie sind zu gütig – wir werden sehen.«
Damit schien sich Helene dem Gebet zu widmen und dem Gesange zu
folgen, entschlossen, keine Antwort mehr
zu geben. Pauline hatte Jeanne neben sich gezogen, um ihr Anteil am
Heizrohr abzutreten, auf dem sie behaglich schmorte. In der
flimmernden Luft, die der Röhre entstieg, reckten beide neugierig
die Köpfe.
»Hm! ist's dir warm?« fragte Pauline. »Ist doch wirklich hübsch
hier, gelt?«
Jeanne betrachtete verzückt die heilige Jungfrau inmitten des
Blumenmeers. Ein Schauer überrieselte sie. Sie fürchtete, nicht
mehr artig zu sein, senkte die Augen und versuchte dem
Schwarz-Weiß-Muster der Fliesen Interesse abzugewinnen, um nicht
aufzuweinen.
Helene wandte sich mit auf ihr Gebetbuch gesenktem Gesicht stets
zur Seite, sobald Juliette sie mit ihren Spitzen streifte. Sie war
auf dieses Zusammentreffen ganz und gar nicht vorbereitet.
Trotz des Gelübdes, Henri nur Liebe zu widmen, ohne ihm jemals
anzugehören, empfand Helene Unbehagen. Verriet sie nicht diese
Frau, die so vertrauensvoll und vergnügt an ihrer Seite saß?
Nein, zu diesem Mittagessen im engsten Kreise würde sie nicht
gehen! Sie suchte nach Mitteln und Wegen, wie sie allmählich diesen
Verkehr abbrechen könnte, der ihr Gefühl für Sauberkeit verletzte.
Aber die wenige Schritte von ihr jubelnden Stimmen der Chorknaben
ließen sie nicht zum Nachdenken kommen. Sie überließ sich dem
einschläfernden Gesang und genoß ein frommes Wohlbehagen, welches
sie bisher niemals in einer Kirche empfunden hatte.
Ein Priester hatte die Kanzel bestiegen. Ein Beben durchflog den
heiligen Raum. Dann sprach er … Nein! Helene nahm sich vor,
nicht zum Essen zu gehen …
Die Augen auf den Priester gerichtet, malte sie sich eine solche erste Zusammenkunft mit Henri aus, die
sie seit drei Tagen fürchtete. Sie sah ihn zornesbleich, wie er ihr
Vorwürfe machte, daß sie sich in ihre vier Wände eingekapselt
hielte. Würde sie ihm gegenüber auch standhaft bleiben?
Über ihrer Träumerei war der Priester verschwunden. Sie
erhaschte nur noch Sätze einer durchdringenden Stimme von oben:
»Es war ein unbeschreiblicher Augenblick … der, in welchem
die Jungfrau, den Kopf neigend, antwortete: Ich bin eine Magd des
Herrn … «
Oh! sie wollte tapfer sein. Die ruhige Überlegung war ihr
zurückgekehrt. Sie würde die Freude genießen, geliebt zu werden;
würde ihre Liebe niemals bekennen. Das sollte ihr Preis für den
Frieden sein.
Und wie innig sie lieben würde! An einem einzigen Worte Henris,
an einem aus der Ferne getauschten Blicke wollte sie sich genügen
lassen. Es war ein Traum, der sie mit Gedanken an die Ewigkeit
füllte! Der Kirchenraum schien ihr freundschaftlich und mild.
Der Priester predigte:
»Der Engel verschwand. Maria versenkte sich in die Betrachtung
des göttlichen Geheimnisses, das sich in ihr vollzog, umwallt von
Licht und Liebe … «
»Er spricht sehr gut,« flüsterte Frau Deberle. »Und ist noch
ganz jung, kaum dreißig … «
Frau Deberle war gerührt. Die Religion war ihr ein angenehmer
Kitzel guten Geschmacks. Den Kirchen Blumen stiften, kleine
Geschäftchen mit den Priestern, diesen höflichen, verschwiegenen
und parfümduftenden Leuten, führen; geputzt in der Kirche sitzen –
all das verschaffte ihr besondere Freude. Ihr Mann ging nicht in
die Kirche, und so hatten ihre frommen
Übungen obendrein den Geschmack der verbotenen Frucht.
Helene antwortete ihr mit einem Nicken. Beider Antlitz strahlte
beglückt. Ein polterndes Rücken von Stühlen wurde laut. Der
Priester verließ die Kanzel, nachdem er den Hörern die Mahnung
mitgegeben hatte:
»Oh! mehret eure Liebe, ihr frommen christlichen Seelen – Gott
hat sich euch geschenkt, euer Herz ist voll seiner Gegenwart, eure
Seele fließt über von seiner Huld!«
Die Orgel setzte ein. Die Litanei der Jungfrau mit ihren Anrufen
heißer Zärtlichkeit nahm ihren Fortgang. Ein Hauch strich über die
Gläubigen hin und verlängerte die steilen Flammen der Kerzen,
während in ihrem großen Rosenstrauß, inmitten der dahinwelkenden,
letzten Duft verströmenden Blumen die göttliche Mutter den Kopf
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