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Ein Blatt Liebe

Ein Blatt Liebe

Titel: Ein Blatt Liebe Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Emile Zola
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verloren. Wo Passy liegen mußte, konnte man noch wenige
Dächer erkennen. Dann hatte die Wolkenwand alles verschlungen und
in tiefe Finsternis getaucht.
    »Ein schwüler Abend,« sagte Helene leise. Erschlafft vom warmen
Brodem, der Paris entstieg, saß sie am Fenster.
    »Die Nacht der armen Leute,« sagte der Priester. »Wir werden
einen milden Herbst haben.«
    An diesem Dienstag war Jeanne über ihrem Nachtisch
eingeschlummert, und Helene hatte sie zu Bett gebracht.
    Das Kind schlief bereits, während Herr Rambaud sich noch mühte,
ein Spielzeug wieder zurecht zu basteln. Es war eine mechanische
Puppe, die sprechen und sogar laufen konnte. Es war sein eigenes
Geschenk an Jeanne. Helene hatte in der Hitze des September die
Fenster weit geöffnet, und die ungeheure schwarze Fläche, die sich
draußen breitete, schaffte ihr Erleichterung. Sie hatte einen Stuhl
ans Fenster geschoben, um mit ihren Gedanken allein zu sein. Nun
war sie erstaunt, den Priester sprechen zu hören.
    »Haben Sie die Kleine gut zugedeckt? In
dieser Höhe ist die Luft schon recht frisch.«
    Helene fühlte das Bedürfnis zu schweigen und antwortete nicht.
Sie genoß den Reiz des schwindenden Lichtes, dieses letzte
Hinsterben aller Gegenstände, das Abebben und Verklingen aller
Geräusche.
    »Welch schöner Sternenhimmel,« flüsterte der Priester. »Dort
oben funkeln sie zu Tausenden.«
    Er hatte einen Stuhl herangeschoben und sich neben sein
Beichtkind gesetzt. Da hob auch sie die Augen. Die Sternbilder
schlugen ihre goldenen Nägel in den Samt des Himmels. Über den Rand
des Horizontes leuchtete ein Planet gleich einem Karfunkelstein,
während eine Staubwolke fast unsichtbarer Sterne das Gewölbe mit
Funkensand überstreute. Das Sternbild des Wagens drehte langsam
seine Achse.
    Jetzt sagte Helene: »Sehen Sie den kleinen blauen Stern dort?
Ich finde ihn alle Abende wieder… In jeder Nacht zieht er seine
Bahn und verschwindet.«
    Die Anwesenheit des Priesters störte Helene nicht, denn von ihm
ging Ruhe aus. Sie tauschten manches gute Wort, dann wieder
schwiegen sie lange. Helene fragte nach den Namen einzelner Sterne,
schon immer hatte sie der Anblick des nächtlichen Himmels
beunruhigt. Er aber zögerte mit der Antwort, er kannte die Sterne
nicht.
    »Sehen Sie jenen schönen Stern dort, der so hell glänzt?«
    »Links, nicht wahr, dort neben dem kleineren, der so grünlich
schimmert… Ach, es sind zu viele – ich habe die Namen
vergessen.«
    Wieder schwiegen sie, die Augen emporgerichtet, von
ehrfürchtigem Schauer vor diesem ständig wachsenden Gewimmel von
Sternen erfaßt. Tausende und Abertausende schienen ohne Unterlaß aus der unendlichen Tiefe des
Himmels aufzutauchen. Schon breitete die Milchstraße ihre Atome, so
zahlreich und fern, daß sie am Gewölbe des Himmels nur einem Bande
aus Licht glichen.
    »Ich habe Angst,« sagte Helene leise.
    Sie senkte den Kopf und schaute in die gähnende Leere zurück, in
der irgendwo Paris liegen mußte. Noch immer war dort kein Licht
sichtbar, noch immer herrschte tiefes Dunkel.
    »Sie weinen?« fragte der Priester, als er neben sich ein
Schluchzen hörte.
    »Ja,« sagte Helene schlicht.
    Sie konnten einander nicht sehen. So weinte sie lautlos mit
einem Flüstern ihres ganzen Seins. Hinter ihnen schlief Jeanne
ihren unschuldigen Kinderschlaf, während Herr Rambaud seinen grauen
Kopf noch immer über die Puppe gebeugt hielt, deren Glieder er
abgenommen hatte.
    »Warum weinen Sie, meine Tochter?« fragte der Abbé wieder. »Kann
ich Ihnen nicht irgendwie helfen?«
    Helene war außerstande zu antworten. Schon einmal hatte sie an
der gleichen Stelle ein Tränenkrampf geschüttelt. Damals hatte sie
sich ausweinen können. Aber jetzt, seit das Kind gerettet war,
hatte sie keinen Kummer. Wieder umfing sie das eintönige und doch
so willkommene Gleichmaß ihres Alltags. Nun plötzlich hatte sie an
ihrem Herzen das stechende Gefühl eines ungeheuren Schmerzes. In
ihr war eine unergründliche Leere, die sie niemals ausfüllen würde,
eine grenzenlose Verzweiflung, in die sie mit allem versank, was
ihr lieb und teuer war. Und doch hätte sie nicht zu sagen gewußt,
welches Unheil ihr drohte. Sie war einfach ohne Hoffnung und
weinte…  Schon während des Marienmonats
waren in der blumendurchdufteten Kirche solche Erregungen über sie
gekommen. Der weite Horizont von Paris in seinem Dämmerlichte
stimmte sie zu frommer Ehrfurcht. Die Ebene schien sich zu weiten
und deckte das trübselige Dasein zweier

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