Ein Blatt Liebe
Millionen schlagender
Herzen barmherzig zu. Und wenn dann die Dunkelheit einfiel und die
Stadt langsam versank, machte Helene ihrem gepreßten Herzen Luft,
und ihre Tränen flossen im Angesicht dieses erhabenen Friedens.
Nach langem Schweigen begann Abbé Jouve von neuem:
»Meine Tochter! Sie müssen sich mir anvertrauen, warum zögern
Sie?«
Helene weinte noch immer, aber es war nur noch ein kindliches
Weinen, müde und kraftlos.
»Die heilige Kirche erschreckt Sie,« sprach die Stimme weiter.
»Manchmal habe ich geglaubt, Sie seien für Gott gewonnen, aber nun
ist es anders gekommen. Der Himmel hat seine Absichten. Nun, wenn
Sie mir als dem Priester mißtrauen, wollen Sie dem Freunde noch
länger eine Aussprache weigern?«
»Sie haben recht,« stammelte Helene. »Ja, ich bin traurig und
habe Sie nötig. Ich muß Ihnen beichten. Als ich noch klein war,
ging ich nicht gern in die Kirche. Heute erschüttert mich jeder
Gottesdienst. Und sehen Sie was mich soeben zum Weinen brachte… es
ist diese Stimme von Paris, die dem Brausen und Tönen einer Orgel
gleicht… es ist die Unermeßlichkeit der Nacht, es ist dieser
sternenbesäte Himmel… Ach! ich möchte glauben… Helfen Sie mir dazu!
Unterweisen Sie mich!«
Der Priester legte seine Hand leicht auf die ihre.
»Sagen Sie mir alles,« antwortete er schlicht. Sie wehrte angsterfüllt ab.
»Sie müssen«es mir glauben, ich habe nichts zu beichten, ich
verheimliche nichts… Ich weine ohne Grund, weil mir zum Ersticken
heiß ist, weil mir die Tränen von selbst kommen… Sie kennen mein
Leben. Ich könnte in dieser Stunde weder eine Schuld noch eine
Gewissensqual finden … Und ich weiß nicht… ich weiß nicht…
«
Ihre Stimme erlosch.
»Sie lieben, meine Tochter!« Langsam tropften die Worte in den
Raum.
Helene bebte und wagte nicht zu widersprechen. Wieder das
Schweigen der Stille. In das Meer von Finsternis, das vor ihnen
schlummerte, trat ein Lichtfunke.
Weit draußen irgendwo im Abgrund zu ihren Füßen mußte es sein,
wenn man auch den genauen Ort nicht bezeichnen konnte. Und dann
erschienen neue Funken, mehr und immer mehr. Sie entstanden in der
Nacht mit einem jähen Sprung und blieben starr und funkelnd.
Ein neuer Sternenhimmel schien auf der Oberfläche eines düsteren
Sees aufzugehen. Noch immer sprach Helene nicht. Sie folgte mit den
Blicken diesem Funkenmeer, dessen Lichter irgendwo am Rande des
Horizonts im Unendlichen den himmlischen Sternen begegneten.
Mit jener eintönig sanften Stimme, die ihm vom Beichtstuhl her
Gewohnheit war, flüsterte der Priester ihr lange ins Ohr. Hatte er
ihr nicht eines Abends gesagt, daß sie nicht für die Einsamkeit
geschaffen sei? Man stelle sich nicht ungestraft in den
Schmollwinkel. Seit sie sich der Welt verschlossen, habe sie
gefährlichen Träumereien Tür und Tor geöffnet.
»Ich bin nun sehr alt, meine Tochter. Ich habe oft Frauen
gesehen, die mit Tränen zu uns kamen, die glauben und niederknien wollten … Heute kann mich das
kaum noch täuschen. Diese Frauen, die Gott so fieberhaft suchen,
sind nur arme, von Leidenschaft verwirrte Herzen. Ein Mann ist's,
den sie in unseren Kirchen verehren … «
In der verzweifelten Anstrengung, ihren Gedanken endlich
Klarheit zu schaffen, entschlüpfte ihr das Geständnis:
»Nun denn, ja, ich liebe … Das ist alles. Weiter weiß ich
nichts, weiß ich nichts mehr … «
Der Priester unterbrach sie nicht. Sie sprach in kurzen
abgerissenen Sätzen wie im Fieber. Sie empfand bittere Freude, ihre
Liebe, die sie schon seit so langer Zeit zu ersticken drohte, zu
beichten, mit dem Greise ihr Geheimnis zu teilen.
»Ich schwöre Ihnen, ich kenne mich selbst nicht mehr …
Alles ist gekommen ohne mein Zutun … Vielleicht ganz
plötzlich … Warum soll ich Stärke heucheln, wo ich schwach
bin? Ich habe nicht zu fliehen gesucht, ich war zu glücklich. Heute
kann ich es weniger denn je … Sehen Sie, mein Töchterchen ist
krank gewesen … Ich war nahe daran, es zu verlieren. Nun!
Meine Liebe war so tief wie mein Schmerz … Nach diesem
schrecklichen Tage ist sie allmächtig geworden … er besitzt
mich, und ich fühle mich fortgetragen.«
Zitternd rang Helene um Atem.
»Ich bin am Ende meiner Kraft. Sie hatten recht, mein Freund! Es
erleichtert mich, Ihnen das alles anzuvertrauen … Sagen Sie
mir, o sagen Sie mir: Was geht in meinem Herzen vor? Ich war so
ruhig, so glücklich. Der Blitz hat in mein Leben geschlagen. Warum
mußte er gerade mich
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