Ein Braeutigam und zwei Braeute
waren selten bereit zu warten.
An einen derartigen Vorfall erinnere ich mich sehr genau. Unmittelbar nachdem Vater das Haus verlassen hatte, um die Mikwe in der Gnojnastraße aufzusuchen, kamen Leute, die durchaus willens waren, auf ihn zu warten. Ich rannte zur Mikwe, aber sich dort zurechtzufinden war kompliziert. Man mußte eine Treppe hinuntergehen und dann an allen möglichen Räumen vorbei, die bis zur halben Höhe mit Ölfarbe gestrichen waren und wo Rohre mit heißem Wasser oder Dampf aus der Wand kamen. Dies war nicht bloß eine Mikwe, sondern das reinste Labyrinth.
Ich irrte umher wie im Traum. Ich öffnete eine Tür und erblickte eine nackte Frau, die gleich loskreischte. Ich geriet in Panik und bildete mir ein, ich würde aus all diesen Korridoren und Durchgängen nicht lebend herauskommen. Endlich fand ich das Männerbad. Vater war nicht da. Die Männer liefen nackt herum. Wie merkwürdig sie aussahen mit ihren nassen Bärten, tropfenden Schläfenlocken und den schlaffen, behaarten Gliedern. Und barhaupt waren sie alle auch noch. Nur ein Mann war im Wasser, und alle anderen sahen ihn verwundert an und machten abwehrende Handbewegungen in seine Richtung. Das Wasser war kochendheiß. Niemand sonst traute sich hinein. Aber dieser eine Mann mit schwarzem Bart und knallroter Haut hockte gemütlich darin. In Abständen tunkte er den Kopf unter; wenn er wiederauftauchte, schnaufte er vernehmlich: »Oh, es ist köstlich! Möge kein Goi je fühlen, wie gut es ist!«
Ich ging wieder nach Hause und sah, daß die Männer nicht mehr da waren – sie hatten nicht länger warten können.
»Hast du ihn gefunden, diesen unerträglichen Schlemihl?« sagte Mutter. Wir beide wußten, daß man von Vater nicht so sprechen durfte. Aber unsere Armut war erdrückend. Am Achten des Monats hätten wir vierundzwanzig Rubel Miete zahlen sollen. Aber nun war schon wieder fast der Achte, und wir hatten noch immer nicht gezahlt. Reb Mendel, der Vermieter, schickte immer den Hausknecht, um die Zahlung einzufordern. Er drohte, unsere Habe zu pfänden und zwangsversteigern zu lassen. In jedem Laden waren wir etwas schuldig. Wir sahen abgerissen aus und konnten uns keine neuen Sachen leisten. Mutter sagte bitter: »Wo ist er hin? Bei normalen Leuten kümmert sich der Hausvater um den Lebensunterhalt, er aber verbringt ganze Tage in den Lehrhäusern. Was soll nur aus uns werden?«
Und dann bemerkte sie aus heiterem Himmel: »Ach und Weh, man hat mich gebeten, mich von ihm scheiden zu lassen!«
Der Gedanke, meine Eltern könnten sich scheiden lassen und füreinander Fremde werden, war unvorstellbar schrecklich. Er war fast so ungeheuerlich wie die Tatsache, daß meine Eltern einst Fremde gewesen waren und ein Heiratsvermittler sie zusammengebracht hatte. Unsere Welt war voll entsetzlicher Wahrheiten. Je älter ich wurde, desto weiter öffneten diese Wahrheiten mir die Augen und verstärkten damit den Aufruhr, der mich erfaßt hatte.
Vaters Freund
Oft höre ich, wie jiddische Schriftsteller sich über das Büchermachen unterhalten. Ihre Themen sind Satz, Matrizen, Druckplatten, Bögen. Ich aber bin wahrscheinlich einer der wenigen Autoren, denen die Terminologie des Buchdrucks von frühster Kindheit an vertraut ist. Mein Vater schrieb Kommentare zu heiligen Texten und ließ seine Bücher drucken. Schon früh kannte ich mich aus mit dem Setzen eines Buchs im Bleisatz, mit Fahnenkorrekturen, dem Umgang mit Matrizen, dem Gießen von Lettern, dem Drucken und Binden. Trotz seiner kargen Einkünfte legte mein Vater Geld auf die Seite, um seine Bücher zu veröffentlichen. »Ein Buch bleibt für immer«, pflegte er zu sagen.
Neben der Veröffentlichung eigener Werke betrieb er auch die Herausgabe einer Handschrift von Rabbi Joseph Schor, dem Verfasser von Pri megadim. Ich erinnere mich an das Manuskript, als hätte ich es vor mir. Es war gebunden und hatte verblaßte Schriftzeichen auf gelblichgrauem Papier. Die Schriftzüge waren, obwohl schon damals hundertfünfzig Jahre alt, noch immer lesbar. Der Titel des Buchs war Notrikon , und wie bei allen anderen Werken aus der Feder Rabbi Joseph Schors war sein Stil schwerfällig. An dieser alten Handschrift arbeitete Vater mit einem guten Freund, der in Rabbinerkreisen für seine Bücher bekannt war und den ich Reb Nachman nennen will.
Es bereitete mir große Freude, am Tisch zu stehen und zuzuhören, wie Vater sich mit Reb Nachman unterhielt. Beide hatten einen
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