Ein Braeutigam und zwei Braeute
weggeben und das Schustern lernen?«
»Damit die Gerechtigkeit siegt. Generäle und Grafen haben sich dieser Bewegung angeschlossen.«
»Ein einziger verrückter General, mag sein. Die Reichen brauchen keine Gerechtigkeit. Die Bauern verhungern, während die Reichen ihre geliebten Söhne nach Paris schicken, damit die dort ein Lotterleben führen. Warum sollten sie den Bauern gleichgestellt sein wollen?«
Vater gab alle möglichen Antworten, aber der Gedanke, die Reichen könnten einfach gezwungen werden, kam ihm nicht in den Sinn. »Zwang« und »Macht« waren Vokabeln, die mein Vater nie in Betracht zog. Der Kernpunkt aller seiner Äußerungen war, daß alle, wenn jeder erst den Nutzen begriffen hätte, einverstanden wären.
Vater war rascher mit dem Abendessen fertig als gewöhnlich und bat um die Fingerschale, um vor dem Tischgebet die Fingerspitzen zu netzen. Er verbrachte nur selten Zeit auf dem Balkon, aber an jenem Abend bat er mich, ihm einen Stuhl hinauszustellen. Ich nahm auch einen für mich mit. Draußen war es heiß, laut, voll Schornsteinrauch. Vater saß da und beschrieb mir die Pläne der Anarchisten. Jeder würde arbeiten und jeder ein Einkommen haben. Mit Dreizehn würde jeder Junge ein Handwerk lernen. Keines wäre schimpflich. Heutzutage schämten manche sich für ihr Handwerk, weil Arbeiter arm waren und auch, weil sie als gemeines Volk galten. Sie hatten keine Zeit zum Studium, aber bei einem Vierstundentag wäre jeder ein Gelehrter. Im Talmud lesen wir von den Weisen Rabbi Jochanaan dem Schuster und Rabbi Josua dem Hufschmied. In alter Zeit war es keine Schande, Arbeiter zu sein. Unser Vorvater Jakob war Schafhirt, ebenso wie Moses und König David.
»Was werde ich, Vater?«
»Du wirst auch Schuster. Wir arbeiten zusammen. Und nach der Arbeit setzen wir uns hin und studieren.«
»Wo werden wir arbeiten?«
»Zu Hause.«
»In deinem Zimmer?«
»Warum nicht?«
»Vater, du kannst doch nicht Schuster werden.«
»Warum nicht? Es ist leichte Arbeit.«
Ich habe meinen Vater immer geliebt, aber an jenem Abend liebte ich ihn noch mehr als sonst. Von allem Neuen, was er uns aus dem Bethaus berichtete, gefiel mir diese Sache am besten. Ich küßte ihn und strählte ihm mit meinen Fingern den Bart. Vater blieb bis spätabends auf dem Balkon sitzen und malte die glücklichen künftigen Zeiten aus, wo man kein Geld mehr brauchte und jeder arbeiten und die Tora studieren würde. Dann war Schlafenszeit, und er begann, das »Höre Israel« zu beten. Ich hoffte, daß sein Plan bald in Erfüllung ginge. Vor mir sah ich schon meinen Vater an der Schusterbank, mit Hammer, Ahle und Schusterzwirn in der Hand, und ich säße neben ihm. Es kämen immer noch Leute wegen Rechtsstreitigkeiten zu uns, aber sie würden diese Dienste nicht bezahlen. Ich ginge in Esthers Süßwarenladen und bekäme alles umsonst: Schokolade, Eis, Küchel, Bonbons.
Jedoch die Tage vergingen, und vom Anarchismus war nichts zu hören. Jedesmal, wenn Vater aus dem Radzyminer Bethaus kam, fragte ich ihn, was mit den Anarchisten sei. Jedesmal antwortete er: »Solche Dinge geschehen nicht über Nacht.«
»Wie lange wird es dauern?«
»Eine Weile.«
Ich begriff schließlich, daß Vaters Begeisterung für diese Sache sich erheblich abgekühlt hatte. Offenbar hatte jemand im Bethaus ihm gesagt, daß diese ganze Philosophie unvereinbar mit dem Judentum war. Er mochte nicht mehr darüber reden. Wenn ich ihn fragte, antwortete er: »Sei Jude, und der Messias wird kommen.«
Der Messias mußte einfach kommen, denn unsere häusliche Armut wurde immer schlimmer. Kümmernisse aller Art machten uns zu schaffen. Meine Schwester in Antwerpen hatte uns einen deprimierenden achtseitigen Brief geschrieben. Die Blätter waren tränenverschmiert. Sie hatte in der Zwischenzeit einen Jungen bekommen, Mojschele. Aber bei den Diamantenschleifern und -polierern herrschte eine Krise. Ihr Mann war seit Wochen und Monaten ohne Arbeit. Andere junge Männer nahmen andere Tätigkeiten an, aber ihr Mann verstand sich nur auf dieses Gewerbe. Er hatte nicht einen Franc nach Hause gebracht, und sie und ihr Kind waren in äußerster Not.
So arm wir waren, mußten wir doch Geld nach Belgien schicken. Es gab sehr wenige Streitsachen, und wenn einmal Leute in einer solchen Angelegenheit kamen, war Vater gerade im Bethaus oder in der Mikwe. Ich erbot mich dann immer, ihn zu holen, aber die Parteien
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