Ein Braeutigam und zwei Braeute
Nachbarstochter Manja kam herein.
»Warum hast du dich den ganzen Tag herum getrieben? Mama hatte dich zum Mittagessen erwartet.«
»Ich bin nicht hungrig.«
»Sie rufen schon, komm, iß mit uns.«
»Ich will nichts essen.«
»Soll ich es dir herbringen?«
Ich gab keine Antwort. Manja brachte mir Kartoffeln, Borschtsch und eine Frikadelle. Sie setzte sich mir gegenüber und sah mir beim Essen zu.
»Vermißt du deine Mama?«
»Nein.«
»Vermißt du deinen Papa?«
»Ich vermisse niemanden.«
»Was willst du mal werden, wenn du groß bist?«
»Ketzer.«
»Was bedeutet das?«
»Daß es keinen Gott gibt.«
»Oh, so darf man nicht sprechen!«
»Aber man kann.«
»Aber dafür mußt du dann in der Hölle braten!«
»Ich nehme einfach Wasser und lösche die Flammen.«
Manja lachte. Ich sah die Grübchen auf ihren Wangen. Sie sah genauso aus wie ihre Mutter Pesele. Ihre beiden Zöpfe hatten rote Schleifen.
»Warum wäschst du dir nicht das Gesicht?«
»Weil ich ein Schornsteinfeger bin.«
»Junge, du bist merkwürdig!«
»Ich bin ein Räuber. Ich habe Hörner!«
Und ich zeigte sie ihr mit zwei Fingern vor der Stirn. Manja lächelte, aber sie war auch ein bißchen verschreckt.
Als sie fort war, ging ich zu Bett und fiel sofort in schweren Schlaf. Mitten in der Nacht wachte ich auf. Mein älterer Bruder war nicht nach Hause gekommen. Ich war ganz allein in der Wohnung. Ich rief mir Boruch Dowids Worte über den Korken ins Gedächtnis, der den langen Weg bis zur Finsternis am Ende der Welt schwamm. Aber wie konnte die Welt ein Ende haben? Es mußte etwas jenseits der Finsternis geben. Und was war dagewesen, bevor die Welt erschaffen wurde? Wer hatte Finsternis und Leere erschaffen? Oh, ich hoffe, ich werde nicht wahnsinnig.
Ich verspürte den verrückten Drang, auf den Balkon zu gehen. Ich öffnete die Tür, und kalter Wind fegte über mich hinweg. Die Krochmalnastraße war menschenleer. An allen Geschäften geschlossene Fensterläden. Nicht eine Seele in der kleinen Anlage. Das einzige Geräusch war das Zischen der Gaslaternen in ihren Dunstglokken. Der sternenübersäte Himmel wölbte sich über den Dächern. Ich fürchtete mich plötzlich und fing an zu weinen. Ich war ganz allein auf der Welt, von verborgenen Greueln umgeben und von Rätseln, die niemand lösen konnte.
Vater wird »Anarchist«
Die Erwartung des Messias war bei uns zu Hause kein ferner Traum, sondern etwas, das uns täglich beschäftigte. Geld zu verdienen wurde immer schwieriger. Vater quälte die Sorge, seine Kinder könnten vom rechten Weg abkommen. In Warschau wimmelte es von Zionisten, Streikenden und leichtfertigen Juden, die am Sabbat kochten und die Speisegesetze nicht einhielten. In Berlin hatte Vater erstmals eine Stadt erlebt, wo fromme Juden auf ein winziges Fleckchen verwiesen waren, inmitten einer Welt von Gojim. Wo sollte all das hinführen? Es gab nur einen Ausweg: Der Messias mußte kommen und Armut, Verbannung und Ketzerei ein Ende bereiten. Vater sprach oft zu mir vom Messias. Er erinnerte mich an die Weissagung, wenn nur zwei Sabbate von allen Juden eingehalten würden, werde der Messias kommen. Bei jeder Gelegenheit äußerte er die Überzeugung, daß alles von uns Juden abhing und daß wir selber schuld waren an der Pein, die wir erduldeten.
Oft kam Vater nach den Gottesdiensten mit Neuigkeiten und Plänen aller Art vom Radzyminer Bethaus zurück. Wenn wir ihn die Treppe zu unserer Wohnung hinauflaufen hörten, wußten wir immer, daß er irgend etwas Interessantes aus dem Bethaus mitbrachte. Wo meine Mutter von Natur aus skeptisch war, reagierte Vater euphorisch, und es verlangte ihn danach, seine Hochstimmung mit seiner Familie und sogar mit Fremden zu teilen.
Es war ein Sommerabend. Wir hörten Vater keuchend die Treppe hinaufstürmen. Er stieß die Tür auf, seine blauen Augen und der feuerrote Bart glühten vor Begeisterung. Vielleicht ist der Messias gekommen, fuhr mir durch den Kopf.
»Guten Abend!«
»Guten Abend!«
»Ich habe im Bethaus gerade etwas gehört!« sagte Vater. »Etwas ganz Außerordentliches.«
»Was denn? Hat der Radzyminer Zaddik mal wieder ein Wunder vollbracht?« fragte Mutter spöttisch.
»Man hat eine neue Gesellschaft gegründet, ihre Mitglieder nennen sich Anarchisten«, sagte Vater. »Sie wollen das Geld abschaffen. Wozu brauchen wir Geld? Geld
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