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Ein Braeutigam und zwei Braeute

Ein Braeutigam und zwei Braeute

Titel: Ein Braeutigam und zwei Braeute Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Isaac Bashevis Singer
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der verehrte Rabbi Meir von Rothenburg auch in den Kerker geworfen worden?
      Vater wandte sich heiligen Texten zu, die vom Märtyrertum handelten. Er begann, Buße zu tun und zu fasten. Wenn ihm ein solches Unglück bestimmt war, war das ein Zeichen, daß er es verdiente. Es war Sommer, und Lula war in die Sommerfrische gereist. Der neue Anwalt, den Vater engagiert hatte, fuhr zur Kur. Ein Verhandlungstermin war angesetzt, dann aber verschoben worden. Der Richter und die Sachverständigen waren irgendwo im Wald auf der Jagd; daß der Rabbi aus der Krochmalnastraße nachts nicht schlafen konnte, interessierte sie nicht.
      Im Radzyminer Bethaus tadelten erfahrene Männer Vater für seine Furchtsamkeit. Ein Chassid äußerte sogar sein Bedauern, daß die Sache nicht ihm passiert war. Er hätte Lula eine Menge Geld abgeknöpft; wenn nicht, hätte er Lula ins Kittchen stecken lassen. Einige der wohlhabenden Juden im Bethaus amüsierten sich köstlich.
      »Was wollen die Ihnen denn wegnehmen?« fragten sie. »Ihren Jore Dea oder Ihren Talmud? Lula wartet wahrscheinlich bis nach den Ferien, wenn die Leute wieder Kattun kaufen. Dann wird er zahlen.«
      Jeder hatte eine andere Ansicht; Vater aber wanderte gedankenversunken umher. Er wußte, es gab Dämonen, Kobolde, Gespenster, Geister und unreine Menschen, die Böses taten. Doch dies war das erstemal, daß Satan sich ihn geschnappt hatte und versuchte, ihn zu zerstören. Was Vater am meisten aufregte, war Lulas Unverschämtheit. Wie konnte jemand einem anderen so frech ins Gesicht lügen? Auch er war schließlich Jude. Er sprach Jiddisch. Von wem stammte ein solcher Sünder in Israel ab? Woher hatte er diese Grausamkeit? Wie konnte er in der Sommerfrische unter Bäumen sitzen, frische Luft atmen und tafeln, wenn er einem Mitjuden das Blut ausgesaugt hatte? Und wenn ein Jude ein solches Unrecht begehen konnte, was durften wir uns dann über das Verhalten der Gojim beklagen?
      »Ach und Weh, es ist nicht gut. Es ist gallebitter«, seufzte Vater unaufhörlich. »Kein Zweifel, dies ist die Zeit des Messias.«
      Mein Bruder, der vom jüdischen Weg schon etwas abgekommen war, brachte Argumente vor, die seinen eigenen Standpunkt stützten. »Da die Juden das auserwählte Volk sind, also diejenigen, die im Gebet sagen ›Du hast uns auserwählt‹, wie kann es da angehen, daß es unter ihnen jemanden wie Lula gibt?«
      »Wenn ein Jude von der Tora abfällt, ist er schlimmer als ein Goi«, erwiderte Vater.
      »Aber auch unter den Chassidim gibt es Bankrotteure«, behauptete mein Bruder. »Vater, du weißt nicht, was sich im Bezirk Nalewki oder in Łodz abspielt. Jeder zweite Kaufmann erklärt den Bankrott. Sie unterschreiben Wechsel und zögern die Zahlung dann so lange hinaus, bis sie in Konkurs gehen. Dann befriedigen sie ihre Gläubiger mit einer Quote von drei zu zehn und können weiter ihre Geschäfte machen. Und das sind dieselben Juden, die zum Rebbe von Gur reisen! Der Rebbe ist selbst Partner in einer Lotterie und hat auch schon selber den Bankrott erklärt.«
      »Du Lump!« schrie Vater.
      »Was ich sage, ist wahr.«
      »Ein Chassid ist kein Schwindler, und ein Schwindler ist kein Chassid – er nennt sich bloß so. Was kann man da machen? Wenn du willst, kannst du dich ›Gouverneur‹ nennen. Wir haben nur diese Tora. Wir haben nichts anderes als diese eine Tora. Sie gibt uns Leben. Wer auch immer nicht an sie glaubt, ist ein Sünder in Israel.«
      »O Vater, du kennst die Welt überhaupt nicht.«
      »Wer bildet diese Welt? Juden, die dem Allmächtigen dienen.«
      »Es ist eine Welt voll Kampf und Raffgier, Mord und Ausbeutung, Schwindel und Lüge.«
      »Das ist nicht die Welt. Das sind die Bösen.«
      »Nach deiner Ansicht, Vater, müssen dann wohl drei Viertel der Welt in der Hölle braten.«
      »Die Hölle ist groß genug!«
      Allmählich beruhigte Vater sich. Wenn es der Wille des Himmels war, daß er, Pinchas Menachem Mendel, der Sohn Samuels des Kohen, im Kerker schmachten sollte, dann war das wahrscheinlich ein gerechter Ratschluß. Gewiß hatte er alles verdient. Der Herr der Welt war ein gnädiger und barmherziger Gott: Nichts Böses kommt von Ihm; alles ist unsere Schuld.
      Rosch Haschana kam und anschließend Jom Kippur und das Laubhüttenfest. Vater befolgte alle mit den Hohen Feiertagen verknüpften Gebote mit leidenschaftlicher Hingabe. Eine Mizwe folgte der anderen. Wieder wurden ein paar Bänke

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