Ein bretonisches Erbe
Abweisendes, hätte der Turm mit Juliens Zimmer nicht so vorwitzig darüber hinweg geschaut, hätte es wie eine Festung gewirkt.
„Wie lange kannst du bei deinen Großeltern wohnen?“, fragte Yuna.
„Solange ich will.“
„Habt ihr immer noch Ziegen und Schafe?“
„Na klar, willst du mitkommen und sie sehen?“
Sie winkte lachend ab.
„Heute nicht mehr, aber an einem anderen Tag gerne. Meine Mutter hat ein leckeres Festessen für heute Abend vorbereitet, wir wollen meine Erbschaft ein bisschen feiern. Sie wartet sicher schon auf mich.“
Sie schaute auf die Uhr und stellte fest, dass tatsächlich unbemerkt schon wieder einige Stunden vergangen waren.
„Gut“, sagte Julien, „akzeptiert. Wann sehen wir uns morgen?“
Sie musste über seine Beharrlichkeit lachen.
„Und wenn ich morgen schon etwas anderes vor hätte?“
„Hast du nicht wirklich?“, sagte er mit einem gespielt zerknirschten Gesichtsausdruck.
Sie konnte ihn nicht weiter quälen.
„Nein, habe ich nicht.“
„Dann ist es ja gut“, meinte er nun wieder total optimistisch.
„Ich hole dich nach dem Frühstück ab – wenn ich darf.“
„Du darfst“, sagte sie gnädig.
Als sie sich am Fuße des Klippenwegs verabschiedeten, strich er ihr mit einer seltsam zarten Geste über das Haar und sagte:
„Ich bin so froh, dass ich dich wieder gefunden haben, mon Amour. Weißt du, dass du meine erste große Liebe warst?“
Schweigend drehte sie sich fort und lief den Weg hinauf.
„Du auch“, murmelte sie dabei vor sich hin, „du doch auch!“
Und so schön sie es fand, dass er die Vergangenheit so wertschätzte, so sehr bedrückte es sie auch, denn sie hatte über die Jahre den schlaksigen Jungen vergessen und mit ihm auch einen großen Teil der Gefühle, die sie damals hatte.
Wenn sie blieb, dann nicht, um an die Kinderzeit anzuknüpfen und ihre erste Liebe neu aufleben zu lassen, sondern weil Julien ein Mann geworden war, der sie jetzt und heute faszinierte und in einer Weise erweckt hatte, wie es zuvor kein Mann vermocht hatte.
Wenn sie blieb, dann würde sie deswegen bleiben, um diesen Mann näher zu erkunden und, wenn möglich, das Glück, welches er ihr schenkte, zurückzugeben. In einer erwachsenen Partnerschaft. Aber bis sie dazu wieder fähig sein würde, lag noch ein weiter Weg vor ihr.
Als sie oben angekommen war drehte sie sich noch einmal um. Julien stand noch immer unten und sah ihr nach. Sie unterdrückte den Drang, gleich wieder zu ihm hinunter zu laufen und sich in seine Arme und seine Liebkosungen zu stürzen, winkte ihm lediglich zum Abschied zu und ging ins Haus, wo ihre Mutter mit einem köstlichen Essen auf sie wartete.
Monika Lindberg hatte den Krebs fachmännisch in zwei Portionen geteilt und servierte ihn mit einer selbstgemachten Majonäse. Hinterher gab es einen Teller mit verschiedenen Salaten und Gemüsen und den Artischocken. Beim fröhlichen Blätterzupfen und Abzutzeln, das begleitet wurde von einer Tasse Cidre, ja, man trinkt ihn hier tatsächlich aus speziellen Cidre-Tassen statt aus Gläsern, schien Yuna die Gelegenheit günstig, das Thema Rückreise anzusprechen.
„Mama, würde es dir etwas ausmachen, wenn ich nicht mit dir nach Deutschland zurückfahren würde? Ich weiß… es ist eine lange Fahrt und du hättest sicher gerne Gesellschaft und ich könnte dich gut am Steuer ablösen… und wir wären schneller zu Hause…“
„Aber?“ Ihre Mutter schaute Yuna fragend an. „Was hindert dich, mich zu begleiten? Oder sollte ich lieber fragen, WER?“
Yuna musste lächeln, wie schnell ihre Mutter doch wieder kombiniert hatte. Sie war wirklich eine kluge und sensible Frau und sie kannte ihre Tochter gut. Schön, dann brauchte sie ja nicht lange um den heißen Brei herumreden und offen erklärte sie die Situation.
„Julien hat mich gebeten, ob ich nicht noch bleiben könnte. Er meint, ich hätte doch nun das Haus und sollte mich hier ein wenig heimisch machen und nicht schon wieder nach Deutschland fahren…“
„Und ist das auch deine Meinung oder willst du nur bleiben, weil er es so möchte?“
Yuna schüttelte den Kopf.
„Nein, nein, es ist nicht, weil er es möchte… ich habe selber auch schon darüber nachgedacht und… na, ja… es ist einfach so, dass ich ihn ebenfalls nicht schon wieder verlassen möchte.“
„Du hast dich verliebt“, sagte ihre Mutter lächelnd, „du kannst es ruhig zugeben, ich habe es schon längst gemerkt. So wie du ihn ansiehst und von ihm
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