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Ein Bündel Geschichten für lüsterne Leser

Ein Bündel Geschichten für lüsterne Leser

Titel: Ein Bündel Geschichten für lüsterne Leser Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Henry Slesar
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ergriff sie und versteckte sie widerwillig zwischen den Büchern auf den Wandregalen. Hätte er es nicht getan, hätte es vielleicht zu selbstbewußt gewirkt.
    Es blieb noch eine Wartezeit von einer Stunde. Er bedauerte die Hast, mit der er sich angekleidet hatte. Vor dem Regal blieb er stehen und betrachtete prüfend das Exemplar von Lovers in Our Midst, seinem zweiten und erfolgreicheren Buch. Von der normalen Buchausgabe waren vierzigtausend, von der Taschenbuchausgabe fünfhundertachtzigtausend Exemplare verkauft worden. Der Verkauf der Filmrechte hatte ihm achtundsechzigtausend, abzüglich Steuern, eingebracht. Aber Kerwin sah nicht Geld, als er den Schutzumschlag betrachtete; er sah die Photographie auf der Rückseite. Der lange, ziemlich knochige Schädel. Der graue Schnurrbart. Das zu lange Kinn, das der Photograph durch die Finger der einen Hand verdecken ließ, so dass es nachdenklich wirkte.
    »Kerwin Drake«, flüsterte er.
    Die Hausglocke läutete. Er warf einen Blick auf seine Patek-Philippe – und dann in die vordere Diele. Viel zu früh. Sein Marsch zur Tür verriet seinen Unwillen.
    Kerwin öffnete. Natürlich war es nicht Colton und auch nicht Standish. Gute Manieren ließen es nicht zu, so früh zu kommen. Es war ein Fremder, eine Frau.
    »Ja?« fragte er.

    Sie rückte einige Zentimeter mehr in das Licht. Ihre Figur war im Türrahmen eine dicke und formlose Masse. Ihr unförmiger Tuchmantel war unordentlich zugeknöpft, und außerdem wölbte ihr Leib sich auf häßliche Weise vor. In der einen Hand trug sie einen kleinen zerschrammten Koffer, und die andere rauhe Hand hielt auf dem Kopf einen gewaltigen Federhut fest, der an schwarze Holzwolle erinnerte.
    »Mervin?« sagte sie.
    »Was soll das?«
    »Mervin!« wiederholte sie und verzog ihren Mund zu einem klaffenden, nahezu zahnlosen Lächeln. »Mervin, um Himmels willen, ich bin es doch!«
    »Sie müssen sich im Haus geirrt haben«, sagte er eisig.
    »Mervin, das darfst du nicht sagen. Ich bin Angela. Kennst du mich denn nicht mehr?«
    In seinem ersten Roman hatte Kerwin eine Szene geschildert, wo seine Heldin bei der Erwähnung eines Namens in Ohnmacht fiel. Diese Szene war selbst ihm immer überspannt vorgekommen; aber jetzt wusste er, dass er nicht übertrieben hatte. Er wich zurück und griff nach dem Türrahmen, um dort Halt zu finden. Auf die Frau musste seine Bewegung wie eine Aufforderung gewirkt haben, denn sie trat in die Diele und stieß die Tür hinter sich zu. Dann stellte sie den Koffer ab und stürzte sich auf ihn.
    »Mervin!« sagte sie frohlockend. »Ich bin so glücklich, dich endlich gefunden zu haben! Oh, ich bin so glücklich, dass ich sterben könnte!«
    Er zerrte an den dicken Fingern, die seinen Hals umklammerten. Die weiche Masse ihres Leibes presste sich gegen seinen Körper und zerdrückte die empfindlichen Aufschläge seines Seidenanzuges. Die schrecklichen, missgestalteten Lippen suchten sein Gesicht – groteske rote Blätter einer fleischfressenden Pflanze. Am meisten überwältigte ihn der Duft billigen Puders, noch billigeren Parfüms und irgendeiner Wäscheseife. Das Ganze war eine so ungeheuerliche Zumutung, dass sein Protest nicht in einem Aufschrei oder in einem Ruf, sondern lediglich in einem fast weibischen Quieken des Entsetzens bestand.
    »Lass dich ansehen!« sagte die Frau und ließ ihn los, um ihn besser betrachten zu können. »Oh, du siehst wunderbar aus! Eine lebende Puppe! Du siehst besser aus als je zuvor, Mervin – weißt du das eigentlich?«
    »Angela«, krächzte er. »Angela, um Himmels willen, ich dachte, du wärest...«
    Sie lachte und schlug sich auf die Manteltasche. »Tot? Wetten, dass du das geglaubt hast? Mein Gott, wie lange ist das her? Fünfundzwanzig Jahre? Freust du dich, dass ich noch lebe, Schatz?«
    Er sank auf einen Stuhl und schlug die Hände vor das Gesicht. »Ich habe dich nicht wiedererkannt. Du hast dich so verändert.«
    »Glaubst du, das weiß ich nicht?« sagte sie glucksend. Betrübt massierte sie sich den Leib. »Ich weiß auch nicht, wie das gekommen ist. Ich meine – erinnerst du dich noch, wie schlank ich damals war, Mervin, als wir heirateten? Damals hast du immer gesagt, ich wäre dein Rehlein; weißt du noch?« Sie kicherte und wollte sich den Mantel ausziehen.
    »Was machst du da?« fragte er bestürzt.
    »Ich ziehe bloß meinen Mantel aus, Mervin.«
    »Das geht nicht! Hier kannst du nicht bleiben, Angela!«
    Sie lächelte. »Das darfst du nicht sagen,

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