Ein Cowboy für Bille und Zottel
Mottenkiste vorsichtig.
„Schwan? Ich weiß nicht — ich würde es eher ,Der Sterbende Zentaur nennen . . flüsterte der mit dem Vollmondgesicht.
„Nein, nein, das ist viel zu direkt. Sie müssen beachten, wie perfekt dem Künstler die Verfremdung gelungen ist“, mischte
sich ein anderer ein. „Es ist... es ist...“
„Form gewordener Schwanengesang“, sagte der Professor, der die ganze Zeit gespannt auf die Reaktion des Publikums geachtet hatte und nicht sah, was aus dem Schwan geworden war. Auch Thorsten und Inge konnten von dem Malheur nichts sehen, da sie seitlich von der Tür standen.
„Ich möchte es kaufen“, sagte eine juwelenbehängte ältere Dicke zu ihrem ebenso dicken Mann. „Ottmar, frag was es kostet
In diesem Augenblick wagte Zottel ein vorsichtiges Hufkratzen und kam sofort wieder in schmerzhafte Berührung mit dem Eisenrohr, das den Schnabel des Schwans dargestellt hatte. Zottel quiekte empört. Formgewordene Musik, hatte der Professor gerade noch einmal sagen wollen. Wie vom Blitz getroffen fuhr er herum. Da stand Zottel — inmitten der Trümmer des „Sterbenden Schwans“ — vom Kopf bis zu den Hufen in einen weißen Schleier gehüllt und von unten magisch angestrahlt. Der Professor glaubte an eine Halluzination, Schweißtropfen traten ihm auf die Stirn.
„Zottel!“ schrie Bille auf und stürzte aus der Tür. „Welcher Idiot hat Zottel in den Schuppen gesperrt? Mein armer Liebling, bist du verletzt?“ Sie drängte sich durch die Schar der staunenden Gäste und befreite das jetzt wieder wütend ausschlagende Pony aus seiner verzwickten Lage.
„I-i-ich hab ihn da reingetan“, kam Karlchens verdutzte Stimme aus dem Hintergrund. „Hat mir ja niemand gesagt, daß in dem Schuppen was drin ist.“
Die Spannung des Publikums löste sich in einem hemmungslosen, befreienden Gelächter. Thorsten war einer Ohnmacht nahe. Der Professor raffte sich auf, die Situation zu retten.
„Meine Herrschaften, ich glaube, auf den Schreck hin können wir noch einen Schluck vertragen! Ich darf Sie alle wieder ins
Haus bitten und hoffe, Sie zürnen uns wegen dieses kleinen Mißgeschicks nicht. ,Der Sterbende Schwan“ wird erst nach seiner Auferstehung zu besichtigen sein.“
Supermann
Der Verlust seines „Sterbenden Schwans“ war für Thorsten ein schwerer Schlag, auch wenn er Bille — die den Tränen nahe war
- versicherte, daß er niemandem einen Vorwurf machte. Erst als nacheinander drei Besucher zu ihm kamen und den Wunsch äußerten, eine seiner Skulpturen zu erwerben, begann sich seine Laune zu bessern. Und als schließlich — als verspäteter Gast — noch Herr Tiedjen erschien, die Ausstellung lobte und Thorsten zu einem Gespräch über eine Pferde-Plastik für den Park von Groß-Willmsdorf einlud, war der Verlust schon fast vergessen.
„Zur Strafe wird Zottel mir jeden Tag zwei Stunden Modell stehen müssen“, sagte Thorsten grinsend zu Bille. „Auf den Hinterbeinen natürlich!“
So wurde Thorstens erste Ausstellung als ein runder Erfolg verbucht. Mutsch und Onkel Paul strahlten vor Stolz über den plötzlichen Ruhm des Schwiegersohns, und Inge rechnete aus, was man von dem Erlös der Kunstwerke alles kaufen könne.
Noch lange sprach man in Wedenbruck davon, daß man jetzt einen richtigen „Künstler“ am Ort habe, einen, zu dem die Fremden kämen, sogar Ausländer — Leute von ganz weit her! Und nicht wenige kamen, um sich von ihrer dorfeigenen Berühmtheit doch wenigstens eine neue schmiedeeiserne Türklinke oder sogar ein kunstvoll verziertes Balkongitter machen zu lassen. Der Ausstellungsraum hatte sich wieder in eine Werkstatt verwandelt, die Ausstellungsstücke konnte man in
-40 der ehemaligen kleinen Wohnstube bewundern, die jetzt leergeräumt und mit Regalen versehen worden war.
Über all den Rummel um Thorstens Ausstellung und Inges kommenden Nachwuchs hatte Bille fast vergessen, was sie vor kurzem noch so in Aufregung versetzt hatte: die Möglichkeit, daß Herrn Tiedjens Sohn zu Besuch käme. Je mehr Zeit verstrichen war, desto weniger glaubte, sie daran. Außerdem stand Weihnachten kurz bevor, man mußte sich um Geschenke kümmern, Karten und Briefe schreiben, basteln und einkaufen — und das alles neben der normalen Schularbeit und der Arbeit mit den Pferden.
Es war zum Problem geworden, die Pferde ausreichend zu bewegen. Ein ständig herabrieselnder Schneeregen hatte Koppeln und Wege aufgeweicht, so daß man an den meisten Tagen die Pferde nur
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