Ein deutscher Sommer: Roman (German Edition)
Höhe mit dem Bus fuhren, so dass die Journalisten bei heruntergedrehten Scheiben fotografieren oder filmen konnten. Immer wieder zuckten grelle Blitzlichter auf, erzeugten helle Wirbel in der Schwärze, bis sie im Lichterstrom der Gegenfahrbahn wieder verloschen.
Chris angelte nach den auf dem Beifahrersitz liegenden Marshmellows, schob zwei Finger in die aufgerissene Tüte und bekam eines der pudrig-weichen Dinger zu fassen. Mechanisch schob sie es sich in den Mund, drückte das süße Etwas mit der Zunge gegen den Gaumen und schickte ein kurzes Stoßgebet hinauf zum Allmächtigen, er möge sie bitte vom Schlimmsten verschonen.
Sie war wütend auf Gott und die Welt, auf die Geiselgangster und auf den Kerl hinter ihr auf der Rückbank. Auf ihren Vater, der sich wegen einer XXL-Schachtel Macadamianüsse fast zuTode gestürzt hatte und sie nötigte, sich Sorgen um ihn zu machen. Auf Klaus, weil er ihr viel zu lange vorgegaukelt hatte, sie zu verstehen, sie in Wahrheit aber nur kontrollieren wollte. Auf das Wetter, weil es viel zu warm war, und auf sich selbst, weil sie nicht auf ihre innere Stimme gehört hatte, als der Typ, der hinter ihr saß und sie herumkommandierte, eingestiegen war und sie ihn nicht gleich wieder rausgeschmissen hatte.
Außerdem war da wieder dieser langsam anschwellende Druck im Oberbauch, begleitet vom schlagartigen Kaltwerden ihrer Hände. Gleichzeitig meinte sie das sich steigernde Pochen ihres Herzens hören zu können (zwar noch fern und gedämpft wie das sachte, fragende Klopfen einer Hand an ein nächtlich beleuchtetes Fenster, aber gleichzeitig so unabweislich wie das heranrollende Grollen eines aufziehenden Unwetters), lauter werdend, spürbar anschwellend. Sie sagte sich ein paarmal im Stillen Dr. Brunners Worte auf: »Das ist alles nur in meinem Kopf. Ich habe keine Angst. Ich bin ganz ruhig und habe nichts zu befürchten. Alles ist gut. Das ist alles nur in meinem Kopf. Ich habe keine Angst. Ich bin ganz ruhig und habe nichts zu befürchten. Alles ist gut.«
Während sie das Lenkrad mit dem rechten Knie fixierte, um den Wagen in der Spur zu halten, riss sie mit Blick auf die vorausfahrenden Autos die Lade des Handschuhfachs auf, angelte zwischen Tempotaschentüchern, Strohhalmen und alten, von ihr beschrifteten Audiokassetten nach dem silberfarben glänzenden Blister, bekam ihn zu fassen und drückte fünf Baldriandragees in die linke, zur Kuhle geformte Hand, beförderte die erbsengroßen Pillen in ihren Mund und spülte sie mit einem Schluck Wasser hinunter.
»Alles in Ordnung mit Ihnen?«, fragte der Fahrgast von hinten.
»Ja, ja«, erwiderte Chris, drehte die zwischen ihren Beinen eingeklemmte, wie ein riesiges Glied aufragende Wasserflascheund ließ sie auf den Boden rutschen. Sie überlegte, wann in ihrem Leben sie sich ähnlich beklommen gefühlt hatte. Natürlich in all den Nächten, in denen sie als Kind, daheim in Oldenburg, in ihrem Bett wach gelegen, die wiederkehrenden lautstarken Auseinandersetzungen ihrer Eltern im Nebenzimmer mitangehört und mit Herzklopfen gebetet hatte, der liebe Gott möge die beiden endlich zur Vernunft bringen, damit sie aufhörten und um ihretwillen zusammenblieben.
Dann, später, während der Abschlussfahrt der 10. Klasse nach Paris, als sie, gemeinsam mit ihrer damaligen besten Freundin Sabine, spätnachts auf dem Rückweg von St. Germain ins Hotel, das sich in der Nähe der Comédie-Française befand, im 1. Arrondissement in einer unbeleuchteten, kopfsteingepflasterten Nebenstraße unweit des Palais Royal, zwei betrunkenen farbigen Männern in die Arme gelaufen waren. Die beiden Männer hatten sie plötzlich gepackt, in einen dunklen Hausflur gezerrt und gegen die Wand gedrückt.
Sabine hatte um Hilfe geschrien, als der eine im Halbdunkel ihre Bluse zerriss und seine großen Hände auf ihre Brüste drückte. Im selben Moment war zur Überraschung aller das Flurlicht angegangen, und ein älterer, mit Schlappen und einem gestreiften Bademantel bekleideter Mann stand schreiend und mit erhobenem Schürhaken vor ihnen und ging auf die beiden Schwarzen los, so dass diese abrupt von ihnen abließen und mit hallenden Schritten in der Pariser Nacht verschwanden. Erst da hatte Chris gesehen, dass es sich bei den Männern in Wahrheit um Jugendliche gehandelt hatte, Halbstarke, nicht älter als achtzehn oder neunzehn.
Am nächsten Tag zündete sie in der kleinen Barockkirche St. Roch, die sich unweit ihrer Pension, in der weitläufigen Rue St.
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