Ein deutscher Sommer: Roman (German Edition)
Honoré, befand, eine Kerze für den Mann mit dem Schürhaken an, dankte ihm in Gedanken und wünschte ihm ein langes Leben. Sie bekreuzigt sich, setzte sich in eine der wenigen Reihenund lauschte mit geschlossenen Augen dem Kommen und Gehen der Besucher. In einer neben dem Eingang der Kirche ausliegenden Broschüre, die sie im Hinausgehen in den sonnigen Pariser Morgen einsteckte, las sie später, dass der berühmte Marquis de Sade 1763 seine Ehe dort geschlossen hatte und der Dichter, Philosoph und Organisator der Encylopédie, Denis Diderot, im nahen kleinen Kirchgarten begraben lag.
Sie fuhren durch die Nacht mit ihrer sekundenlang undurchdringlichen Schwärze, folgten stur dem Bus und den zahlreichen vorausfahrenden Journalistenfahrzeugen. Chris sagte sich: Ich muss daran arbeiten, die Dinge endlich wieder positiver zu sehen. Ich will lebendig sein und wieder so glücklich wie damals, als 14-Jährige, als das Glück noch etwas Federleichtes war und schon eine am blauen Himmel träge vorübersegelnde Schäfchenwolke genügte, um mich froh zu stimmen.
Dabei hatte es so viele verdorbene Früchte am Lebensbaum der Mahlers und Perlmanns (wie ihre Mutter mit Mädchennamen hieß) gegeben. Der Großvater mütterlicherseits, Arnold Perlmann, war Uhrmacher und eingefleischter Sozialist und zudem jüdischer Abstammung dritten Grades gewesen. Nach Hitlers gescheitertem Putschversuch und der Rede im Münchner Zirkus Krone am 30. Oktober 1923, in welcher der Mann aus Braunau offen zum Sturz der Reichsregierung unter Stresemann aufrief, erhängte sich Arnold Perlmann im Wohnzimmer seiner Bremer Wohnung.
Hans Perlmann, der jüngere Bruder ihrer Mutter, tat sich bei der Waffen-SS im Oberabschnitt »Nordwest« in Hamburg so lange als skrupelloser Judenhasser hervor, bis ihn seine Waffenund Gesinnungsbrüder eines Morgens, von Unbekannten erstochen, in einem Meer von Flaschen in seiner Altonaer Wohnung fanden. Und Lutz Mahler, der Zwillingsbruder ihres Vaters, galt seit der Luftschlacht um England als verschollen.
Mit Eintritt in die Pubertät kam sich Chris wie eine Astronautinzwischen ihren ewig streitenden Eltern vor, dazu verurteilt, bis ans Ende aller Tage zwischen zwei Planeten hin und her zu schweben, in deren von Kratern übersäte Oberflächenkruste Schilder gerammt waren, auf denen in riesigen, weithin sichtbaren Lettern die Worte BESETZT und VERSEUCHT geschrieben standen.
All das spukte ihr durch den Kopf, während sie den Wagen mit 90 km/h durch die Nacht steuerte. Fehlte bloß noch, dass mannshoch lodernde, mitten auf der Fahrbahn entzündete Feuer die Nacht erhellten. Genau wie damals auf ihrer Fahrt durch die stockdunklen Straßen von Kalkutta zum International Airport, deren Schwärze plötzlich von riesigen Feuern zerrissen worden war.
Chris war damals 15 und in einen Vietnamesen namens Minh verliebt gewesen, und die über den Asphalt kullernden Feuerbälle hatten der Szenerie etwas von einer Straßenschlacht verliehen. À la Belfast oder Pariser Banlieue. (Als sie damals in Oldenburg in das regennasse Taxi gestiegen waren, das sie zum Flughafen nach Bremen brachte, hatte Minh mit dem Finger »Ich vermisse dich« auf die beschlagene Fensterscheibe geschrieben.)
Ihre Mutter hatte sie gegen den ausdrücklichen Willen ihres Mannes auf eine zehntägige Indienreise mitgenommen. Sie hatten eine alte Freundin in Kalkutta besucht, die kurz nach dem Abitur nach Indien ausgewandert war.
Chris hatte schon am zweiten Tag hohes Fieber bekommen und war von einer rätselhaften Infektion geschwächt. Sie hatte am Mittag einen Burger aus Wasserbüffelfleisch und hinterher widerlich süße Bananenpfannkuchen gegessen. Kurz darauf war ihr Bauch angeschwollen, und sie hatte sich mehrmals übergeben. Der Mann der Freundin ihrer Mutter hatte sie ins Krankenhaus gebracht, wo sie tagelang hinter heruntergelassenen Jalousien gelegen und von irgendwelchen Medikamenten betäubt von einem wirren Fiebertraum in den nächsten geglitten war. Bis siezwei Tage vor ihrer Rückreise nach Deutschland das Hospital geschwächt und vollkommen ausgezehrt wieder verlassen konnte. Die letzten ihr verbleibenden Stunden in Kalkutta war sie an der Seite der Freunde ihrer Mutter durch die slumartigen Viertel gelaufen, irritiert von der Armut und angewidert von dem Müll, den verwahrlosten Menschen und der unverhohlen zur Schau gestellten Religiosität. Immer wieder schoben sich zwischen baufälligen Hütten überraschend schöne, europäisch anmutende
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