Ein deutscher Sommer: Roman (German Edition)
Bilder durch den Kopf. Bilder einer lachenden Frau, die wusste, wie schön sie war, wie anziehend sie auf Männer wirkte.
Einen Moment lang vergaß Brigitte, dass sie nicht allein war. Doch das dezente Räuspern des jungen Arztes, der sie ins Zimmer begleitet hatte, brachte sie in die Gegenwart zurück. Sie trat an das Bett und griff nach der Hand. Die Hand eines Kindes, dachte Brigitte angesichts der erschreckenden Leichtigkeit. EineHand, von der alles Gewicht abgefallen war. Federleicht geworden. Totenleicht?
Zum Fenster trieb Benzingeruch herein, und von der Straße drangen Stimmen herauf, kurz darauf das langgezogene Hupen eines Autos. Dann wurde es still, und das Zimmer füllte sich mit Mariannes schweren, rasselnden Atemzügen. Ein paarmal versuchte sie erfolglos, die Decke wegzustoßen, und verfiel in die alte Reglosigkeit. Sie hielt die Augen geschlossen, spitzte kurz, wie um etwas zu sagen, die eingefallenen Lippen, brachte aber nicht den geringsten Laut hervor.
Als Brigitte sich vorbeugte, glaubte sie spüren zu können, dass der Körper ganz leicht zitterte. Wie ein vom Unwetter überraschtes Kind, das mit blau gewordenen Lippen schlottert, dachte sie.
»Is she sleeping?«, fragte sie halblaut und suchte den Blick des Arztes.
»She’s dreaming. It’s a kind of delirium«, antwortete er in gut verständlichem Englisch. »It’s the morphine, that we gave her to protect her from pain.«
Marianne, die immer schlank gewesen war, hatte die Statur einer Zwölfjährigen angenommen, die in die Pubertät kam. Unter der Decke wölbten sich ihre geschrumpften Brüste, ihre Armen waren dürr und sehnig. An der Schläfe schimmerte unter der feucht glänzenden, leicht gebräunten Haut der kantige Schädelknochen hindurch. Ihre Augen wirkten wie vergrößert, als betrachtete man sie durch eine Lupe.
»Will she die?«, fragte Brigitte.
»Yes«, sagte der Arzt.
»When?«
»Today, tomorrow. Nobody knows for sure. But it will be soon.«
Eine Weile schwiegen sie, und Brigitte spürte, wie etwas in ihr wegstrebte, hinaus aus der beklemmenden Enge des Zimmers. Sie biss sich auf die Lippen.
»Bist du das, Martin? Bist du da?«, erklang plötzlich Mariannes Stimme. Sie sprach wie durch einen Vorhang, weich und gedämpft. Ihre Stimme schien von weit her zu kommen, aus der Entfernung von Jahren.
Brigitte schrak kurz zurück, ließ aber die Hand, die sie die ganze Zeit hielt, nicht los. Dann beugte sie sich wieder nach vorn und strich Marianne übers Haar, wie man es bei einem Kind macht, das schlecht träumt. Langsam und gleichmäßig. Dabei fühlte sie die Hitze, die von dem geschwächten Körper ausging.
Ein paar Minuten lang wiederholte sie ihre Streichelbewegung, zart und gleichförmig. Dann nahm sie allen Mut zusammen und sagte mit ungeschickt verstellter Stimme: »Ja, ich bin’s, Martin. Ich bin da. Ich bin zurückgekommen. Ich bin bei dir.«
»Gut, dann ist alles gut«, erwiderte Marianne mit einem Seufzer, mit dem scheinbar alle Luft auf einmal aus ihrem geschwächten Körper wich. Ohne die Augen zu öffnen, deutete sie eine Handbewegung an, knapp und rätselhaft. Doch ihre dünnen Finger fuhren ins Leere und sanken kraftlos zurück aufs Bett.
»Ja«, sagte Brigitte mit dem Gefühl, am Ende eines langen steinigen Weges angelangt zu sein. »Ja, das ist es.« Und so war es. Endlich.
***
Ihre Stimme drang in der Dunkelheit zunächst wie von fern an sein Ohr. »Hörst du, Thomas!«, wiederholte sie nun ein wenig fordernder und rüttelte an seiner Schulter, »ich muss gehen!«
Bertram, der, nachdem sie sich ein zweites Mal geliebt hatten, in einen tiefen Schlaf gefallen war, vernahm ein leises Ächzen des Sprungrahmens, dann gab die Matratze kurz nach, und er wurde vollends wach.
»Wie spät ist es denn?«, sagte er und tastete nach seiner auf dem Nachttisch liegenden Uhr.
»Kurz nach vier«, antwortete Sylvia und lief hinüber ins Bad. Bertram drehte sich auf die andere Seite. Aus dem Badezimmer fiel ein handbreiter Streifen Licht auf den Flurboden, Sylvias Bewegungen erzeugten einen über die Dielen tanzenden Schatten. Er starrte hinüber, doch zu mehr als einem Blinzeln war er nicht fähig.
»Bleib doch«, rief er halblaut, die linke Gesichtshälfte reglos gegen das vom Schweiß feuchte Kissen gepresst. Noch immer hing die Wärme wie eine Glocke über der nächtlichen Stadt. Die Luft schien stillzustehen.
»Das geht nicht!«, erwiderte sie.
»Warum denn nicht?«
Sie antwortete nicht. Stattdessen
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