Ein deutscher Wandersommer
neun Wochen alt waren, packte ich den Unterlauf eines Hirschs für Cleo in den Wagen – wir hatten uns vorab einen Namen mit C für den Welpen aussuchen dürfen; üblicherweise ist es so, dass alle Welpen des ersten Wurfs einer Zuchtstätte einen Namen mit demAnfangsbuchstaben A bekommen, die des zweiten Wurfs mit dem Buchstaben B und so weiter –, und dann fuhren Birgit und ich los. Knapp 1400 Kilometer, davon etwa 1100 durch Frankreich. Obwohl wir im belgischen Grenzgebiet leben, ist keiner von uns beiden der französischen Sprache mächtig, und welcher Franzose spricht schon Deutsch oder Englisch? Selbst wenn er es kann. Wir versuchten die Strecke daher so schnell wie möglich hinter uns zu bringen, zumal gemächliches Verweilen oder Sightseeing schon wegen des frischen Hirschlaufs ausfielen.
Am nächsten Vormittag erreichten wir Cleos Heimatort, ein abgelegenes Dorf im hintersten Winkel von Südfrankreich mitten in den Pyrenäen. Gleich nach dem Jäger begrüßte uns Cleos Mutter, eine relativ große, muskulöse Hündin, sehr selbstbewusst, aber nicht aggressiv. Das hat mir schon mal sehr, sehr gut gefallen. Und dann kam auch gleich Cleo aus dem Haus gerannt und wollte wissen, was da los war. Als sie uns Fremde sah, bremste sie vor der Treppe, die in den Hof hinunter führte, ab und musterte uns neugierig.
»Mann, ist die süß!«, entfuhr es mir, ein Ausdruck, den ich sonst eigentlich nie verwende. Tierbabys sind ja fast alle irgendwie süß, Cleo aber haute mich fast um, so schön war sie – und ist es heute noch.
Langsam ging ich auf sie zu und legte ihr sozusagen zur Begrüßung den Hirschlauf auf die Treppe. Cleo ging hin, schnüffelte kurz daran, schaute dann zu mir hoch und knurrte, was hieß: »Das ist jetzt meiner!« Ich war völlig perplex.
»Das gibt es doch nicht! Die knurrt dich an, die Kleine! Das kann ja was geben«, meinte Birgit.
»Wieso?«, fragte ich. »Das zeigt nur, dass sie ganz schön selbstbewusst ist. Mir gefällt das.«
Zwar gab uns die Frau des Försters auf meine Bitte hin die Decke aus der Wurfkiste mit, damit Cleo wenigstens einen vertrauten Geruch in der Nase hatte, aber alles andere war natürlich völlig neu für sie. Plötzlich war sie bei fremden Leuten, die anders sprachen, anders rochen, sich anders bewegten und anders gestikulierten als die, die sie kannte. Und nach einer langen Zeit in einem großen Ding, das brummte, öffnete sich dessen Tür, und der kleine Hund stand in der kalten, rauen Eifel. Cleo kuschelte sich auf ihr kleines Stück Decke, in der noch der Duft mit all den Erinnerungen an Zuhause hing. Sie wollte nicht richtig fressen, nicht richtig trinken; sie vermisste ihre Mutter, die vertraute Umgebung, sehnte sich zurück in die warmen Pyrenäen. Cleo litt. Zum Glück ist der Hund ein domestiziertes Tier und schließt sich sehr schnell dem Menschen an, und da Cleo sehr jung war, verblassten die Erinnerungen an ihr früheres Leben im Lauf der nächsten Wochen.
Im ersten Jahr konnte ich mir nicht vorstellen, dass ich mit Cleo mal das erleben darf und kann, was ich mit Cita und auch deren Vorgängerin, Kim, erlebt habe. Cita und Kim waren ein bisschen draufgängerisch, manchmal sogar etwas überpassioniert in ihrer Jagdleidenschaft. Cleo ist eher die Vorsichtige, wägt mehr ab. Wenn es hart auf hart geht, bleibt sie lieber an meiner Seite. Wenn sie etwas jagt, also hetzt, kommt sie schneller zu mir zurück – was ich mittlerweile als sehr angenehm empfinde. Ich will keinen Hund mehr, der ein Wildschwein zehn Kilometer über Berg und Tal hetzt und erst nach vielen Stunden aufgibt, während ich mir die ganze Zeit Sorgen mache, ob etwas passiert ist.
Um den Bogen zu schließen: Am Ende der Wanderung waren Cleo und ich so stark zusammengewachsen, dass wir uns blind verstanden; wir brauchten uns nur anzusehen, um zu wissen, was der andere gerade spürte oder dachte. Und Cleo hat auf der Wanderung unheimlich viel gelernt, ist, auch wenn das bei einem Hund vielleicht komisch klingen mag, reifer geworden. Kurz nach der Wanderung musste sie im Rahmen der jährlichen Jahreshauptversammlung des Vereins Hirschmann ihre erste sehr schwierige Prüfung, die sogenannte Vorprüfung für junge Schweißhunde, ablegen. Der »Richter Obmann«, oder Rüdemeister, war ein eher kritischer, knorriger, sehr direkter Mann. Er hatte zunächst Vorbehalte gegen Cleo und mich – wahrscheinlich hauptsächlich gegen mich, wegen meiner langen Haare, der ausgebeulten Hose und vor allem,
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