Ein deutscher Wandersommer
Hirsche röhren hören.« Nun war Karl Obringer, der, wie er mir nebenbei erklärte, in Frauenwald als der »Hirschvater« bekannt war, in seinem Element.
Er erzählte mir, dass er viele Hirsche am Geweih erkennt. Da das Geweih vom nächsten Jahr von der Form, vom Wuchstyp her dem vorherigen ähnelt, erstaunte mich das nicht sonderlich. Eher, dass er behauptete, er könne die Hirsche zur Brunftzeit an der Stimme wiedererkennen. Jüngere Hirsche klingen nämlich dünner und blecherner als ältere, und wenn die Brunft lange dauert, dann schreien sich die Hirsche regelrecht heiser. Aber, so sagte ich mir, den Spitznamen Hirschvater wird er nicht von ungefähr haben.
Wie sich herausstellte, war Karl Obringer außerdem ein Meister des Hirschrufs. Als Hilfsmittel dienen dabei unter anderem Ochsenhörner, Tritonmuscheln, Kunststoffrohre oder die Stängel der Herkulesstaude (Riesenbärenklau), im Grunde alles, was einen Resonanzkörper hat, mit demman einen tiefen Ton erzeugen kann, der weit trägt. Der Hirschvater schwor auf die Gießkanne.
Seine große Leidenschaft aber war das Sammeln von Geweihen, möglichst von einem Hirsch, den er schon von klein auf kannte. Die besondere Herausforderung lag darin, jedes Jahr beide Passstangen, also die rechte und die linke, zu finden. Früher, als die Tiere das ganze Jahr an großen Heuraufen oder Wannen mit Kraftfutter gefüttert wurden, war das weit einfacher als heute. Wenn die Hirsche während der Notzeit im Januar und Februar ihr Geweih abwarfen, standen sie in der Regel in der Nähe der Fütterungsstelle, und der Hirschvater brauchte die Stangen nur noch aufzusammeln. Geweihe mitzunehmen galt und gilt heute noch als Jagdwilderei. Früher stand sogar Zuchthaus darauf, da die Geweihstangen eine wichtige Mineralienquelle für kleine Nagetiere sind. In manchen Gegenden allerdings, zum Beispiel im Harz oder in Bayern, gibt es eine besondere Regelung: Wenn man die Stangen bei sogenannten Zackelschauen vorzeigt, damit sich die Förster und Jäger ein Bild von der Geweihentwicklung der Hirsche machen können, wird Straffreiheit gewährt und der Finder darf die Geweihe in der Regel mit nach Hause nehmen. Der Hirschvater hatte gleich zwei Garagen bis unter die Decke voll mit Geweihen. Alle schön mit Zetteln versehen, wann und wo gefunden, von welchem Hirsch.
Wie viele Menschen, denen ich bislang begegnet war und die ich bis zum Ende der Wanderung noch treffen sollte, trauerte Karl Obringer der guten alten Zeit nach, als die Welt noch in Ordnung und alles geregelt war. Vielleicht hing das damit zusammen, dass diese Menschen früher mehr geachtet wurden. Staatsförster etwa war ein hoch angesehener Beruf. Und man selbst neigt ja mit zunehmendem Alter ebenfalls dazu, das Vergangene zu romantisieren und das Unschöne auszublenden. Zwar erinnere ich mich noch gut an die schlimmen Zeiten mit meinem Stiefvater und an meine Flucht – und daran gibt es wahrlich nichts zu romantisieren –, der Groll und der Hass aber sind verschwunden, weil ich mir sage, letztendlich hat es mich zu dem gemacht, der ich heute bin, und mir in gewisser Weise den Weg dahin gewiesen. Und ich habe ein sehr erfülltes und privilegiertes Leben. Jedenfalls bin ich von Menschen wie Karl Obringer immer sehr beeindruckt, tief berührt und höre ihnen unheimlich gern zu, da es in einigen Jahren kaum mehr jemanden geben wird, der vom Leben, von den Erfahrungen und Erlebnissen an der ehemals innerdeutschen Grenze aus erster Hand wird berichten können.
Wenn man aus dem Thüringer Wald mit seinen dunklen und großen geschlossenen Waldflächen in die Rhön kommt, öffnet sich die Landschaft. Große Teile des Mittelgebirges, das man auch »Land der offenen Fernen« nennt, sind vulkanischen Ursprungs, was man an den vielen runden Kegeln und Kuppen, die die Landschaft prägen, gut erkennen kann. Helle Mischwälder wechseln sich mit Hochmooren, Wiesen und Weiden ab, die durch Beweidung und Berglandwirtschaft entstanden sind und bewusst so erhalten werden, weil sie etwas ganz Besonderes sind. Dazwischen lockern Buschgruppen oder einzelne Sträucher das Bild auf. Die Rhön ist in ihrer Vielfalt außergewöhnlich, weshalb sie von der UNESCO als Biosphärenreservat anerkannt wurde.
Cleo führte mich mit ihrer feinen Nase und ihren guten Ohren auch hier zu vielen Dingen, die ich gar nicht wahrgenommen hätte. Manchmal waren es Kleinigkeiten am Wegesrand, das Nest einer Feldlerche, ein
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