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Ein deutscher Wandersommer

Ein deutscher Wandersommer

Titel: Ein deutscher Wandersommer Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Andreas Kieling
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hellen Felswand, wärmt seine Jungen und wirft eine für einen Uhu gut sichtbare Silhouette.«
    »Na gut, aber die Federn und das Gewölle lassen sich doch genau analysieren. Vielleicht war es ein kranker Vogel, den der Uhu geschlagen hat. Uhus jagen ja in gewisser Weise selektiv, also in der Regel kranke, schwache oder unvorsichtige Tiere. Die sind praktisch die Gesundheitspolizei des Waldes. Und der Uhu ist in Deutschland fast genauso selten wie der Wanderfalke.«
    »Sie wissen das, und ich weiß das«, stimmte mir Herr Brauneis zu und zuckte vielsagend die Schultern.
    Es war hier im Eichsfeld wie so oft. Menschen, die sich voll und ganz einer Sache – oder in dem Fall einem Tier – widmen, verlieren nicht selten den Blick aufs große Ganze.
    Es sind übrigens mehr Vogelarten, als man gemeinhin vermuten möchte, die Gewölle produzieren, das heißt, unverdauliche Nahrungsreste hochwürgen und ausspeien. Neben Eulenvögeln, zu denen der Uhu gehört, und Greifvögeln zählen dazu unter anderem Kormoran, Möwe, Krähe, Storch und Eisvogel. Da Eulenvögel, egal ob Waldkauz, Uhu, Schleiereule, Sperlings- oder Steinkauz, eine weniger aggressive Magensäure als andere Vögel haben, sind Analysen ihrer Gewölle besonders aufschlussreich. Das ein oder andere Mal fand man dabei Knochen, die man nicht zuordnen konnte, und stellte dann beim Vergleich mit einem Skelett aus einer Sammlung oder einer anderen Ecke Deutschlands fest: Donnerwetter, die Haselmaus – oder die Rötelmaus oder den Siebenschläfer – gibt es in unserer Region ja doch noch!
    Am Abend, nachdem ich auf einer Waldlichtung das Zelt aufgebaut hatte, saßen Cleo und ich um ein kleines Feuer und träumten vor uns hin. Ich ließ den Tag Revue passieren. Cleo und ich waren durch eine traumhaft schöne Landschaft gewandert, mit sanften bewaldeten Hügeln, schroffen Felshängen, herrlichen Bergwiesen mit seltenen Orchideen, und das erste Mal in Deutschland hatte ich wild lebende Wanderfalken gesehen. Plötzlich glitt direkt überunsere Köpfe ein riesiger Schatten hinweg. Wenige Minuten später ein weiteres Mal. Absolut lautlos. Ein Uhu. Der krönende Abschluss eines wunderschönen Tages.
     
    Am nächsten Tag entdeckte Cleo etwas abseits des Kolonnenwegs eine etwa hüfthohe Betonröhre.
    »Sag bloß, die Dinger gab es wirklich!«, rief ich laut, und tatsächlich: An den oberen Rand hatte jemand »Stasi-Röhre« geschrieben. Als ich noch in der DDR lebte, gab es Gerüchte, dass über solche Röhren Agenten in den Westen eingeschleust würden, aber keiner wusste Genaueres. Ihre Standorte unterlagen höchster Geheimhaltung, denn diese Röhren wären gute Fluchttunnel gewesen. Angeblich wusste nicht einmal der Bundesgrenzschutz davon.
    »Jetzt fragst du dich bestimmt, wieso der Westen, speziell der Bundesgrenzschutz und der BND , nichts von diesen Röhren mitbekommen haben sollen, nicht wahr, Cleo?« Mein Hund guckte einigermaßen interessiert, also fuhr ich fort: »Die Röhren endeten zwar jenseits des Metallstreckzauns, aber noch auf DDR -Gebiet. Nach dem Zaun kam ja noch das Sperrgebiet bis zur eigentlichen Staatsgrenze, die nur durch schwarz-rot-goldene Pfosten gekennzeichnet war. Theoretisch war das Sperrgebiet also zugänglich und hätte man einen Stasitunnel entdecken können, nur traute sich der Bundesgrenzschutz in der Regel nicht hinter die Grenzpfosten. Die Röhren wurden außerdem an sehr abgelegen Stellen gebaut und die Enden gut getarnt.«
    Cleo hatte längst das Interesse an meinen Ausführungen verloren und schnüffelte begeistert am Einstieg der Agentenschleuse herum. Kein Wunder, da roch es nach Fuchs, nach Dachs, nach Steinmarder und anderem Getier, das in dem Schlamm und Laub, die sich am Boden der Röhre angesammelt hatten, seine Düfte und andere Spuren hinterlassen hatte. Natürlich musste ich durch den Tunnel, keine Frage. Auf Händen und Knien wäre es relativ leicht gewesen, doch dann wäre ich völlig verdreckt drüben angekommen. Daher quälte ich mich in der Hocke über die knapp fünfzig Meter, während Cleo leichtfüßig hinter mir her tippelte.
     
    Etwa eine Stunde später standen Cleo und ich vor dem WestÖstlichen Tor auf dem Kutschenberg zwischen Teistungen und Ecklingerode: zwei zwölf Meter hohen Eichenstempen, umsäumt von 66 jungen Roteichen.
    »Hm«, meinte ich zu Cleo, nachdem ich das erste Kunstprojekt am Grünen Band, das die überwundene Teilung symbolisieren soll, eine Weile betrachtet hatte. »Dieses ›Kunstwerk‹

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