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Ein deutscher Wandersommer

Ein deutscher Wandersommer

Titel: Ein deutscher Wandersommer Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Andreas Kieling
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bocksbeinigen Teufel und Sünder, die ins Fegefeuer getrieben werden. Obwohl die Gemälde aus den Anfängen des 17. Jahrhunderts stammen, wirkte der Stil auf mich irgendwie sehr modern. Die aus Lindenholz geschnitzte Darstellung von Jesus am Kreuz aus dem zwölften Jahrhundert gilt als das meistverehrte sakrale Kunstwerk des Bistums Erfurt.
    »Das Besondere daran ist«, erklärte mir Bruder Rolf, »dass Christus mit offenen Augen dargestellt ist.«
    Mir war bis zu dem Zeitpunkt nie aufgefallen, dass Jesus am Kreuz sonst die Augen wohl meistens zu hat. Da ich aber nicht sehr oft in Kirchen gehe, ist das nicht weiter verwunderlich. Ich schaute mir die Darstellung genauer an, und da fiel mir auf, dass der Gekreuzigte nicht, wie ich es sonst kenne, Leiden und Schmerz ausstrahlte. Vielmehr schien es, als hätte er all das schon hinter sich. Er wirkte, ja, wie soll ich es sagen?, erlöst.
    »Wo sind denn die anderen alle?«, fragte ich, während wir Richtung Garten spazierten.
    »Welche anderen?«, wollte Bruder Rolf wissen.
    »Na, die anderen Franziskaner.«
    »Wir sind hier nur zu dritt«, erklärte er mir.
    Der Hülfensberg liegt auf ehemaligem DDR -Gebiet. Dort hieß die Religion aber Marx, Engels und Lenin, und das Parteibuch und das kommunistische Manifest waren die Bibel. Wenn man in der Schule punkten wollte, konnte man den größten Mist erzählen, aber wenn man zum Schluss sagte: »Das hat Karl Marx gesagt« oder »hat Friedrich Engels gesagt«, dann wurde der Quatsch selten angezweifelt. Vielmehr hieß es: »Donnerwetter, der Junge ist gut informiert.« Man durfte es natürlich nicht übertreiben, sonst flog das Ganze irgendwann mal auf.
    Die Kirchen waren aus Sicht der DDR ein ideologischer Gegner und standen unter erheblichem politischem Druck. Die Mitgliederzahlen sanken denn auch dramatisch: in der evangelischen Kirche von 85 Prozent der Gesamtbevölkerung im Jahr 1950 auf etwa 25 Prozent im Jahr 1989 und in der katholischen Kirche im gleichen Zeitraum von zehn auf fünf Prozent. Nichtsdestotrotz blieben die christlichen Kirchen ein gesellschaftlicher Faktor, und letztlich wurden 1989 die alljährlich im November stattfindenden Friedensgebete zum Ausgangspunkt der Montagsdemonstrationen in Leipzig und anderen Orten. Opposition gegen den Staat spielte dabei eine größere Rolle als der Glaube, denn die Friedensbewegung war die einzige Möglichkeit, sich gegen den Staat aufzulehnen, sozusagen im Schutz der Kirche.
    All das kümmerte die Franziskaner auf dem Hülfensberg allerdings nur am Rande, denn sie hatten mit ganz anderen Problemen zu kämpfen. Weil das Kloster im Sperrbezirk des Grenzgebiets lag, waren die Pilgerzeiten stark reglementiert und brauchte jeder, der zum Kloster wollte, einen extra Passierschein. Vieles war auch einfach nur Schikane.
    »Diese Zeiten sind gottlob vorbei«, sagte Bruder Rolf abschließend.
    Seit etwa zehn Jahren ist das Kloster auf dem Hülfensberg ein »Kloster zum Mitleben«. Gestresste Leute, die vom hektischen Businessleben in Frankfurt die Nase voll haben, können hier sozusagen einen Klosterurlaub machen. Es wird gemeinsam mit den Franziskanern gegessen und, wenn man will, gebetet. Man kann in Haus und Garten mitarbeiten, verschiedene Gebetsformen ausprobieren, sich mit den Brüdern und anderen Gästen austauschen oder die Stille genießen. Alles auf freiwilliger Basis, gezwungen wird man hier zu nichts. Ein oder zwei Wochen an einem solchen Ort der Ruhe, der Besinnung, des In-sich-Hineinhorchens könnte so manchem Banker oder Topmanager sicher nicht schaden, dachte ich mir. Und auch so manch anderem nicht. Wie oft trifft man Menschen, deren Leben von Hektik und Stress geprägt ist und die permanent an der Grenze der Belastbarkeit leben. Sie haben Geld, sie haben alles erreicht, vielleicht auch gesellschaftlich, aber was ihnen fehlt, ist Seelenfrieden. Sie reden von Erdung oder Yoga, haben eine große Sehnsucht nach Harmonie. Aber sie stecken in einem Hamsterrad, das sich immer schneller dreht. Dafür sind wir nicht gemacht. Deshalb ist ein Innehalten, Abschalten, Entspannen so wichtig, um wieder Kraft zu schöpfen. Und dieser Ort hier schien mir in seiner Gesamtheit wie geschaffen dafür.
    Viel lieber als über all diese Dinge unterhielt sich Bruder Rolf über die Natur. Er wollte wissen, welche Tiere ich unterwegs gesehen, welche Pflanzen ich gefunden hatte, wie ich die weitere Entwicklung unserer Natur in Deutschland sehe, wer dabei die Gewinner sind und wer die

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