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Ein deutscher Wandersommer

Ein deutscher Wandersommer

Titel: Ein deutscher Wandersommer Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Andreas Kieling
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einem Knick der Elbe liegt – anders ausgedrückt: auf einem Flussknie – und somit an drei Seiten von der Elbe beziehungsweise westdeutschem Gebiet umgeben war, war es durch den zweiten Zaun plötzlich von der DDR abgeschnürt. Den Bewohnern war es freigestellt, von Rüterberg weg tiefer in die DDR hineinzuziehen, was etliche taten: In den 22 Jahren von 1967 bis 1989 schrumpfte die Bevölkerung von dreihundert auf 150Einwohner. Diejenigen, die allen Widrigkeiten zum Trotz blieben, lebten fortan in einer Art großem Gehege, einem Freilichtgefängnis. Besuch empfangen durften sie nicht, »Freigang« war nur durch ein bewachtes Tor und mit Passierschein möglich – und nur zwischen fünf Uhr morgens und elf Uhr abends. Nachts blieb das Tor verschlossen.
    Rüterberg war wirklich eine der größten Absurdität entlang der Grenze – zu einer weiteren kamen Cleo und ich später. Heute erinnern daran ein Wachturm ganz oben auf dem Berg, der zu einer Ferienwohnung umgebaut wurde – keine schlechte Idee, denn der Ausblick von da oben muss grandios sein –, ein kleines Stück Zaun und das Ortsschild mit der Aufschrift »Dorfrepublik Rüterberg«. Auch so ein Kuriosum: Am 8.November 1989 beschloss eine Einwohnerversammlung einstimmig, Rüterberg aus Trotz gegen das DDR -System zur Dorfrepublik auszurufen. Zur Erinnerung: Nur einen Tag später fiel die Mauer. Und eine allerletzte Kuriosität: Noch 1988, ein Jahr vor der Wiedervereinigung, war der alte Grenzzaun durch einen stabileren ersetzt und waren Stolperdrähte sowie Hundelaufanlagen installiert worden – für satte elf Millionen Mark.
Auf dem Weg zum Schaalsee
    Etwa auf halber Strecke zum Schaalsee, am »Checkpoint Harry«, war ich mit meinem Freund Markus Lanz verabredet, der Cleo und mich ein Stück begleiten wollte. Wir hatten uns lange nicht gesehen, und da der Terminkalender des gefragten Fernsehmoderators noch voller war als meiner, war dies auf absehbare Zeit die einzige Gelegenheit für ein Treffen. Der Kontrollpunkt heißt erst seit knapp zwanzig Jahren so. Nach der Wiedervereinigung stand dieehemalige Grenzabfertigungshalle zunächst eine Weile leer, bis der jetzige Besitzer Harry Strelow die Idee hatte, darin einen Imbiss zu eröffnen und diesen in Anlehnung an den berühmt-berüchtigten »Checkpoint Charlie« in Berlin »Checkpoint Harry« zu nennen.
    Wir liefen auf mecklenburg-vorpommerscher Seite durch eine wenig abwechslungsreiche Landschaft: unebenes Gelände, Mischwald, Buschland, was uns nicht weiter störte, da Markus und ich uns eine Menge zu erzählen hatten. Am späten Nachmittag kamen wir an einem Feld vorbei, auf dem der Bauer gerade mit dem Dreschen der Wintergerste begann. Wintergerste ist das Getreide, das als Erstes reif wird und die Erntesaison eröffnet. Fasziniert blieben wir stehen und beobachteten, wie die riesigen Mähdrescher sich Reihe für Reihe durch das schier endlose Feld schoben. Der dabei aufgewirbelte Staub schwebte höher und höher und legte sich wie ein feiner Schleier vor die tief stehende Sonne. Das Bild, das sich uns bot, war – obwohl es natürlich mit dem Anblick eines die Sense schwingenden Bauern nicht mithalten konnte – unglaublich romantisch.
    Und das empfanden wohl nicht nur Markus und ich so, denn ein Stück weiter standen zwei ältere Frauen in den Anblick des Geschehens versunken, und nach und nach gesellte sich das halbe Dorf dazu. Für die ländliche Bevölkerung hat die Ernte bis heute einen ganz starken symbolischen Charakter. Sie ist harte Arbeit, aber auch der Lohn für vergangene Mühen, sie ist die Freude und Erleichterung darüber, dass das Korn gediehen ist, ist die Hoffnung auf einen sorgenfreien Winter. Die Einzige, die sich von der eigentümlichen Szenerie nicht berühren ließ, war Cleo. Nur wenn hin und wieder ein Reh von den Maschinen aufgeschreckt aus dem Feld in den angrenzendenWald flüchtete, merkte sie auf. Dann konnte man regelrecht sehen, wir ihr ganzer Körper vibrierte.
    Viele LPG s, die damaligen »genossenschaftlich-sozialistischen Großbetriebe« der Landwirtschaft der DDR , sind bis heute Genossenschaften und dominieren in weiten Teilen die Landwirtschaft in Ostdeutschland. Einige andere wurden aufgelöst und das Land an die früheren Eigentümer zurückgegeben, die man, sofern sie weiter als Landwirte arbeiteten, »Wiedereinrichter« nannte. Zum Verständnis: Es gab zu DDR -Zeiten drei verschiedene Arten von LPG s: Beim sogenannten Typ I hatte der Bauer nur seinen Boden, bei

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