Ein dickes Fell
Bespuckten gesehen werden?
Die Stimmung war also ausgesprochen gut. Nicht zuletzt, da jener norwegische Konzern, der diese Veranstaltung sponserte, auch für ein ordentliches, zumindest ein ausreichendes Catering gesorgt hatte. Die Gäste griffen zu wie nach tausend Jahren Hunger. Das ist übrigens auch so eine Wiener Spezialität, in Fragen der Stürmung von Buffets jegliche Scham vermissen zu lassen. Eher gehört der Ansturm zum guten Ton. Zurückhaltung ist verdächtig. Hat etwas von einem Protest an sich, einer radikalen Verweigerung. Militanter Vegetarismus, zum Beispiel. Vielleicht auch Spionage. Der Essende fühlt sich vom Nichtessenden beobachtet.
Es soll aber nicht verschwiegen werden, daß auch die ausgestellten Objekte, die Wittgensteinbriefe und Hamsunnotate, gewürdigt wurden. Immerhin war das der einzige Abend, an dem sie zu sehen waren. Sodann würden sie in den geheimen Gängen der Wissenschaft verschwinden. Wo mit ihnen alles mögliche geschehen konnte. Auch für Handschriften gab es Schreckenskammern. In bezug auf die Lagerung und in bezug auf die Auswertung. Jedenfalls standen nicht wenige Leute mit Häppchen aus miederartig verpacktem Reis und Fisch vor den Vitrinen und versuchten, sich ein Bild zu machen. Fach- und Laiengespräche entbrannten. Über Hamsun, den Nazi, und Wittgenstein, den Schwulen. (Damit sei zumindest der unterschwellige Charakter dieser Diskussionen auf den Punkt gebracht. Über Nazis und Schwule läßt sich nun mal ungleich kurzweiliger debattieren, als wären allein Dichtung und Philosophie das Thema.)
Über die mächtige Außentreppe, die man vom Schnee befreit hatte und die jetzt wie eine aufgefaltete, verknitterte Tageszeitung dalag, stiegen Cheng und Gemini zum mittleren Eingang, wo sie ihre Einladungskarten vorzeigten und sodann durch eine Schranke in die Vorhalle traten. Sie gaben ihre Mäntel ab, zogen zwei Gläser Wein von einem hingehaltenen Tablett und gingen zum entgegengesetzten Teil der Etage, dorthin, wo eine in Rechtecke gegliederte, hohe und breite Glasfront den Blick hinunter auf die Furche der U-Bahntrasse und ein historisches Stadtbahnhäuschen freigab. Dahinter das nächtliche Häusermeer und ganz im Norden die vagen Konturen diverser Erhöhungen, mehr eingesunken als erhöht.
»Auf eine gute Ehe!« verkündete Cheng und stieß sein Glas gegen jenes Geminis, welches sie wie zur Abwehr auf Brusthöhe geparkt hatte.
»Sie können nicht aufhören damit, was?« sagte Anna.
»Natürlich, ich bin lästig. Ich weiß selbst nicht warum,
aber …«
Er redete nicht weiter. Jemand war von hinten an ihn herangetreten und hatte mit kräftiger Stimme seinen Namen genannt. Er drehte sich um und blickte in das Gesicht einer Frau.
»Meine Güte, Irene«, stöhnte Cheng.
»Was anderes fällt dir nicht ein?« beschwerte sich die Frau, die Irene war, Chengs Ex-Frau, eine ganz wunderbare Person, die ein klein wenig breiter geworden war, aber auch sehr viel gesünder aussah als in den alten, schlechten Zeiten. Sie lächelte ihren Geschiedenen an und meinte in spielerischem Tonfall, es sei eine Gemeinheit von ihm, nach Wien zu kommen, ohne sie vorher angerufen zu haben.
»Du bist ein Hund«, sagte sie. »Und zu meiner Hochzeit bist du auch nicht gekommen.«
»Das tut mir wirklich leid«, sagte Cheng und fragte: »Ist dein Mann hier?«
Nicht, daß er ihn kennenlernen wollte.
»Helwig!« rief Irene.
Helwig kam angetrottet, wie das Helwigs zu tun pflegen. Ein großer, dicklicher Mann, bärenartig, gewissermaßen tatzig, nicht aber plump, zudem gut gekleidet, was kein Wunder war, wenn man bedachte, daß Helwig in einem Modegeschäft arbeitete. Sein Spezialgebiet waren Damenhandtaschen. Wenn es nach seiner Meinung gegangen wäre, hätte es mehr geschmackvolle Taschen auf der Welt und sehr viel weniger Produkte von Louis Vuitton gegeben. Nicht, daß Helwig solche Meinungen zu äußern pflegte.
»Mein Mann – mein Ex-Mann«, machte Irene den einen mit dem anderen bekannt. Es bereitete ihr sichtliches Vergnügen. Nicht zuletzt das Vergnügen, Markus Cheng unbeschadet überstanden zu haben.
»Ich gratuliere«, sagte Cheng zu seinem Nachfolger.
»Sie ist mein ganzes Glück«, versicherte Helwig und blickte zärtlich zu seiner Irene hinunter.
Cheng war gerührt. Er sah, wie gut es den beiden miteinander ging. Wie einfach sie es hatten. Wie wenig sie hinterfragten, weil da nichts zu hinterfragen war. Das soll es nämlich auch geben: man heiratet, hat sich gern, lebt ein
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