Ein diplomatischer Zwischenfall
kleineren sind für Oberst Lacey und seine Frau, wenn sie wieder allein sind und die Familie wieder kleiner geworden ist.«
»Ich verstehe.«
»Sie haben übrigens heute beim Mittagessen den falschen Pudding bekommen.«
»Den falschen Pudding?« Poirot runzelte die Stirn. »Wieso das?«
»Ja – wir bewahren den Weihnachtspudding in einer großen Kuchenform aus Porzellan auf. Obendrauf ist ein Stechpalmen- und Mistelzweigmotiv. Der Weihnachtspudding wird immer in dieser Form gekocht, aber heute Morgen passierte ein Unglück. Als Annie die Form vom Bord in der Vorratskammer holte, rutschte sie aus. Sie ließ die Form fallen, und die Schüssel zerbrach. Ich konnte natürlich den Pudding nicht servieren lassen, es hätten ja Splitter darin sein können. Also mussten wir den anderen Pudding nehmen – den für Neujahr, der in einer ganz normalen Schüssel lag. Die Schüssel gibt dem Pudding eine schöne runde Form, aber sie ist nicht so dekorativ wie die Weihnachtspuddingform. Ich weiß wirklich nicht, wo wir eine ähnliche Form wieder kaufen können. Diese großen werden heute nicht mehr hergestellt. Alles ist winzig klein. Man kann ja heute nicht einmal mehr eine Frühstücksschüssel bekommen, die acht bis zehn Eier mit Schinken fasst. Es ist leider alles nicht mehr so, wie es früher war.«
»Da haben Sie Recht«, ergänzte Poirot. »Der heutige Tag bildet aber eine Ausnahme. Dieses Weihnachtsfest ist doch wie in alten Tagen, oder nicht?«
Mrs Ross seufzte. »Ja, ja, ich freue mich, dass Sie das sagen, aber ich habe nicht mehr so gute Hilfen wie früher. Es fehlt an gelernten Hausgehilfinnen. Die Mädchen von heute…«, sie senkte die Stimme ein wenig,»… geben ja ihr Bestes. Sie haben viel guten Willen, aber keine Erfahrung, wenn Sie verstehen, was ich meine.«
»Die Zeiten ändern sich«, sagte Poirot. »Es stimmt mich selber manchmal traurig.«
»Wissen Sie, dieses Haus ist für die Herrin und den Oberst zu groß. Die Herrin weiß das genau. Wenn beide nur in einem Flügel des Hauses leben, so ist das nicht das Richtige. Das Haus wird erst lebendig, wenn die ganze Familie zu Weihnachten versammelt ist.«
»Ich glaube, Mr Lee-Wortley und seine Schwester sind zum ersten Mal hier?«
»Ja.« Die Stimme von Mrs Ross klang plötzlich reservierter. »Er ist nett, wirklich, aber – nun ja, er passt nicht zu Miss Sarah; nach unserer Meinung. Aber dort, in London, denkt man anders. Leider geht es seiner Schwester so schlecht. Sie wurde operiert. Einen Tag nach ihrer Ankunft hier ging es ihr ganz gut, so schien es wenigstens. Nachdem sie aber den Pudding umgerührt hatte, ging es ihr wieder schlechter. Seit diesem Tag hat sie das Bett nicht mehr verlassen. Ich glaube, sie ist zu früh nach der Operation aufgestanden. Ach, die heutigen Ärzte! Sie entlassen einen aus dem Krankenhaus, wenn man sich noch gar nicht auf den Beinen halten kann. Die Frau meines Neffen…«
Mrs Ross begann langatmig und voller Begeisterung von den Krankenhausbehandlungen zu erzählen, denen sich ihre Verwandten einmal unterzogen hatten. Da die Pflege in den früheren Zeiten besser als heute gewesen sei, fiel ihr Vergleich negativ aus. Poirot sprach ihr gebührend sein Mitempfinden aus.
»Ich muss Ihnen zuletzt noch einmal für das ausgezeichnete und üppige Mahl danken. Sie erlauben doch, dass ich mich ein wenig erkenntlich zeige?« Eine neue Fünfpfundnote wanderte in Mrs Ross’ Hand.
Mechanisch antwortete sie: »Das ist aber wirklich nicht nötig.«
»Ich bestehe darauf, ich bestehe aber darauf.«
»Das ist sehr liebenswürdig von Ihnen, besten Dank.« Mrs Ross nahm die Anerkennung als selbstverständlich hin. »Ich wünsche Ihnen ein fröhliches Weihnachtsfest und ein erfolgreiches neues Jahr.«
5
Der erste Weihnachtstag endete, wie die meisten Weihnachtstage zu enden pflegen. Am Baum wurden die Kerzen angezündet. Ein herrlicher Weihnachtskuchen wurde zum Tee hereingetragen. Man bewunderte den Kuchen, aber es wurde nur wenig gegessen. Am Abend gab es kalte Platte.
Sowohl Poirot als auch die Gastgeberin und der Gastgeber gingen zeitig zu Bett.
»Gute Nacht, Monsieur Poirot«, sagte Mrs Lacey. »Ich hoffe, der Tag hat Ihnen gefallen.«
»Es war ein wundervoller Tag, Madame, einfach wundervoll.«
»Sie sehen so nachdenklich aus.«
»Ich denke über den englischen Pudding nach.«
»War er Ihnen zu schwer?«, fragte sie besorgt.
»Nein, nein. Davon kann keine Rede sein. Ich denke über seine Bedeutung
Weitere Kostenlose Bücher