Ein diplomatischer Zwischenfall
aufgegangen. Es schneite nicht mehr, aber es hatte während der Nacht stark geschneit, und ein makelloser, dichter Schneeteppich deckte alles zu. Die Welt sah sehr rein, weiß und schön aus.
»Dort!«, sagte Colin atemlos. Er zeigte aufgeregt die Stelle.
Das Bild, das sich ihnen bot, wirkte tatsächlich dramatisch. Wenige Meter entfernt lag Bridget im Schnee. Sie trug einen scharlachroten Schlafanzug. Um ihre Schultern schlang sich ein weißer Schal, den ein blutroter Fleck verunzierte. Ihr Kopf lag auf der Seite. Ihr üppiges schwarzes Haar verdeckte das Gesicht. Ein Arm lag unter dem Körper, der andere war weit weggestreckt, die Hand zur Faust geballt. Mitten in dem hochroten Fleck stak aufrecht der Griff eines großen, geschwungenen kurdischen Dolches, den Oberst Lacey gestern Abend den Gästen gezeigt hatte.
»Mon Dieu!«, rief Monsieur Poirot aus. »Das sieht ja wie im Film aus.«
Michael gab einen erstickten Laut von sich. Colin lenkte die Aufmerksamkeit schnell auf sich.
»Das stimmt«, sagte er. »Es sieht aus, als ob es nicht echt wäre. Sehen Sie die Fußspuren? Man darf sie nicht verwischen.«
»Nein. Die Fußspuren dürfen nicht zertrampelt werden.«
»Das habe ich auch gedacht«, bestätigte Colin. »Deshalb habe ich niemanden an Bridget herangelassen. Ich dachte, Sie wüssten da am besten Bescheid.«
»Ja«, sagte Poirot unvermittelt, »zuerst wollen wir feststellen, ob sie noch lebt.«
»Ja – natürlich«, sagte Michael zögernd, »aber wissen Sie, wir dachten – ich meine, wir wollten nicht…«
»Ach, was wolltet ihr nicht? Ihr habt sicher Kriminalromane gelesen. Natürlich ist es wichtig, dass ihr nichts angerührt habt – auch die Leiche nicht. Aber bis jetzt wissen wir noch gar nicht, ob es sich überhaupt um eine Leiche handelt, oder? An erster Stelle steht schließlich der Mensch. Wir müssen zunächst an den Arzt denken, dann erst an die Polizei, meint ihr nicht auch?«
»Ja, selbstverständlich«, antwortete Colin hilflos.
»Wir dachten nur – ich meine, wir dachten, es wäre besser, zuerst Sie zu holen«, ergänzte Michael hastig.
»Ihr bleibt hier stehen! Ich gehe von der anderen Seite an sie heran, damit die Fußspuren nicht verwischt werden. Mein Gott, sind das schöne Fußspuren – ganz deutlich, nicht wahr? Die Fußspuren eines Mannes und eines Mädchens laufen auf die Stelle zu. Die Fußspuren des Mannes führen zurück, die des Mädchens aber – nicht.«
»Das müssen die Fußspuren des Mörders sein«, antwortete Colin. Vor lauter Erregung atmete er kaum.
»Sehr richtig! Ein langer schmaler Fuß mit einem ziemlich seltenen Profil. Sehr interessant. Meiner Meinung nach leicht zu erkennen. Ja, die Fußspuren werden sehr wichtig sein.«
In diesem Augenblick trat Desmond Lee-Wortley mit Sarah aus dem Haus. Sie kamen auf sie zu.
»Was um alles in der Welt macht ihr denn hier?«, fragte er aufgeregt. »Ich habe euch von meinem Schlafzimmer aus beobachtet. Was ist denn los? Großer Gott, das sieht ja – es sieht ja nach…«
»Sehr richtig«, antwortete Hercule Poirot. »Es sieht nach Mord aus, nicht wahr?«
Sarah holte tief Luft, dann blickte sie plötzlich die beiden Jungen misstrauisch an.
»Sie meinen, irgendjemand hätte das Mädchen – wie heißt sie doch –, Bridget, umgebracht?«, fragte Desmond. »Wer hätte sie denn töten wollen? Das kann man ja nicht glauben.«
»Es gibt viele Dinge, die man nicht für möglich hält«, sagte Poirot, »besonders wenn sie vor dem Frühstück geschehen. Das hat doch einer eurer Klassiker gesagt: ›Es gibt sechs Dinge, die unmöglich vor dem Frühstück geschehen können.‹« Er fügte hinzu: »Bleiben Sie bitte alle hier stehen!«
Vorsichtig ging er um Bridget herum, trat dann an sie heran und beugte sich über sie.
Colin und Michael wurden von unterdrücktem Lachen geschüttelt. Sarah erging es ähnlich. Sie kannte den Übermut der beiden.
»Die gute Bridget!«, flüsterte Colin. »Ist sie nicht herrlich? Kein Muckser bisher.«
»Noch nie habe ich jemanden so tot gesehen wie Bridget«, flüsterte Michael.
Hercule Poirot richtete sich auf.
»Das ist ja furchtbar«, flüsterte er. Seine Stimme klang tonlos, vollkommen verändert.
Aus Angst, laut herauszuplatzen, mussten sich Michael und Colin rasch umdrehen. Mit erstickter Stimme fragte Michael: »Was – was sollen wir nur machen?«
»Uns bleibt nur eins übrig«, antwortete Poirot. »Wir müssen sofort die Polizei holen. Will einer von euch
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