Ein diplomatischer Zwischenfall
anrufen?«
»Ich glaube, ich glaube – was meinst du, Michael?«, fragte Colin.
»Ja, ich meine, der Spaß hat jetzt lange genug gedauert.« Er trat einen Schritt vor. Zum ersten Mal schien er ein wenig unsicher zu sein. »Es tut uns sehr leid. Hoffentlich nehmen Sie es uns nicht übel. Sie müssen nämlich wissen, es – äh –, es war eine Art Weihnachtsscherz, Monsieur Poirot. Wir dachten – nun ja, wir wollten einen Mord für Sie inszenieren…«
»Ihr wolltet einen Mord für mich inszenieren?«
»Es ist nur Theater«, erklärte Colin. »Wir haben es nur gemacht, damit Sie sich wie zuhause fühlen.«
»Aha! Ich verstehe; ihr wolltet mich in den April schicken, nicht wahr? Aber heute ist nicht der erste April, sondern der sechsundzwanzigste Dezember!«
»Ich glaube, wir hätten es doch nicht tun sollen«, befürchtete Colin, »bitte, sind Sie uns deswegen nicht böse, Monsieur Poirot. Komm, Bridget! Bridget, steh auf! Du musst ja schon halb erfroren sein.«
Die Gestalt im Schnee rührte sich jedoch nicht.
»Das ist aber merkwürdig«, sagte Poirot, »sie scheint euch nicht zu hören.« Er blickte alle nachdenklich an. »Und es soll ein Scherz sein, sagt ihr? Seid ihr auch sicher, dass es nur ein Scherz ist?«
»Ja, natürlich«, antwortete Colin. Er fühlte sich in seiner Haut nicht mehr wohl. »Wir… wir haben doch nichts Böses beabsichtigt.«
»Und warum steht dann Mademoiselle Bridget nicht auf?«
»Ich weiß es nicht«, erwiderte Colin. »Komm, Bridget«, rief er ungeduldig, »steh doch auf, lass die Dummheiten! Es tut uns wirklich sehr leid, Monsieur Poirot«, sagte Colin verängstigt. »Wir müssen uns bei Ihnen entschuldigen.«
»Sie brauchen sich nicht mehr zu entschuldigen.« Poirots Stimme klang merkwürdig steif.
»Was meinen Sie damit?« Colin starrte ihn an. Er drehte sich noch einmal um. »Bridget, Bridget! Was ist los? Warum stehst du nicht auf? Warum bleibst du denn liegen?«
Poirot winkte Desmond zu.
»Kommen Sie, Mr Lee-Wortley, kommen Sie her.«
Desmond trat zu ihm.
»Fühlen Sie ihren Puls!«
Desmond Lee-Wortley beugte sich zu dem Mädchen hinunter. Er ergriff den Arm – das Handgelenk.
»Ich fühlte keinen Pulsschlag – « Er starrte Poirot an. »Der Arm ist steif. Großer Gott, sie ist tatsächlich tot.«
Poirot nickte. »Ja, sie ist tot«, bestätigte er. »Jemand hat aus der Komödie eine Tragödie gemacht. Hier sind Spuren, die her- und zurücklaufen. Und diese Fußspuren gleichen genau den Ihrigen, die Sie vom Haus bis hierher im Schnee hinterlassen haben, Mr Lee-Wortley!«
Desmond Lee-Wortley fuhr blitzschnell herum und starrte auf die Spur.
»Was… Beschuldigen Sie etwa mich? Sind Sie verrückt? Warum hätte ich denn dieses Mädchen töten sollen?«
»Tja – warum? Das frage ich Sie auch.«
Poirot beugte sich hinunter und löste sehr sanft ihre steifen Finger.
Desmond atmete schwer. Er traute seinen Augen nicht, als er sah, dass in der Handfläche des toten Mädchens ein großer Edelstein lag. Es schien ein Rubin zu sein. »Das ist ja der verdammte Stein aus dem Pudding!«, rief er aus.
»Stimmt das?«, fragte Poirot. »Sind Sie sicher?«
»Natürlich ist das der Stein!« Schnell bückte er sich und nahm den roten Stein aus Bridgets Hand.
»Das hätten Sie nicht tun sollen«, sagte Poirot vorwurfsvoll. »Sie durften doch nichts verändern.«
»Ich habe nichts an der Leiche verändert. Aber dieses Ding könnte vielleicht verloren gehen, und es ist doch ein Beweisstück. Das Wichtigste ist jetzt, die Polizei zu holen – so schnell wie möglich. Ich werde anrufen.«
Lee-Wortley drehte sich um und rannte auf das Haus zu. Sarah trat zu Poirot.
»Ich verstehe das nicht«, flüsterte sie. Ihr Gesicht war leichenblass. »Ich verstehe es wirklich nicht.« Sie umklammerte ängstlich Poirots Arm. »Was haben Sie mit – mit den Fußspuren gemeint?«
»Sehen Sie selbst, Mademoiselle.«
Die Fußspuren, die zur Leiche und wieder zurückführten, waren die gleichen, die Desmond im Schnee hinterlassen hatte, als er, vom Haus kommend, mit Poirot an die Leiche des Mädchens herangegangen und wieder zurückgetreten war.
»Sie meinen, es war Desmond?«
Das Aufheulen eines Automotors zerriss plötzlich die Stille. Schnell drehten sich alle um. Sie sahen deutlich, wie ein Auto in rasender Fahrt die Auffahrt hinunterjagte. Sarah erkannte, wem das Auto gehörte. »Desmond!«, rief sie. »Es ist Desmond. Sicher fährt er zur Polizei, anstatt zu telefonieren.«
Diana
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