Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Ein diskreter Held

Ein diskreter Held

Titel: Ein diskreter Held Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Mario Vargas Llosa
Vom Netzwerk:
besuchten, niemals lud sie zum Tee ein. Er blieb stehen, unentschlossen, und sah auf einmal die verschwommene Gestalt seiner Frau, wie sie, in einem dieser Kleider, die aussahen wie Ordensgewänder, mit ihrem immer angestrengten Gang auf ihn zukam. Warum so ein Gesicht? Klar, sie kannte die Neuigkeit schon.
    »Du hast also schon alles erfahren«, murmelte er.
    Aber sie ließ ihn nicht ausreden, deutete nur nach hinten, ihre Stimme überschlug sich fast:
    »Es tut mir leid, unendlich leid, Felícito. Ich musste sie bei uns unterbringen. Ich konnte nicht anders. Es ist nur für ein paar Tage. Sie ist geflohen. Aus Angst, dass man sie umbringt. Eine unglaubliche Geschichte. Aber sie kann es dir selber erzählen.«
    Felícito Yanaqués Brust war eine Trommel. Er schaute Gertrudis an, verstand kaum, was sie sagte, doch statt des Gesichts seiner Frau sah er das von Adelaida, verwandelt von einer Vision, einer Eingebung.

XVI
    Warum brauchte Lucrecia nur so lange? Don Rigoberto, ganz in Schwarz, ging in der Diele des Penthouse in Barranco auf und ab wie ein Raubtier im Käfig. Seine Frau kam einfach nicht aus dem Schlafzimmer. Er wollte nicht zu spät zu Ismaels Beerdigung kommen, doch mit ihrem Fimmel, unter den absurdesten Vorwänden jedes Mal den Aufbruch zu verzögern, schaffte Lucrecia es am Ende noch, dass sie zur Kirche kamen, wenn der Trauerzug schon zum Friedhof losgezogen war. Er wollte nicht unangenehm auffallen, nicht erst auf dem Jardines de la Paz erscheinen, wenn die Beisetzung schon begonnen hatte, und die Blicke aller Anwesenden auf sich ziehen. Es kamen bestimmt sehr viele, so wie gestern Abend bei der Totenwache, nicht nur aus Freundschaft zu dem Verstorbenen, sondern getrieben von der für Lima typischen krankhaften Neugier, endlich die Witwe des Skandals persönlich zu sehen.
    Aber Rigoberto wusste, dass er nichts tun konnte, außer sich abzufinden und zu warten. In all den Jahren ihrer Ehe war der einzige Anlass für Streit wahrscheinlich Lucrecias Verspätung gewesen, wann immer sie ausgingen, ob ins Kino, zum Essen, in eine Ausstellung oder zum Einkaufen, ob sie nur zur Bank gingen oder auf Reisen. Am Anfang, als sie noch frisch verheiratet waren und erst kurz zusammenlebten, glaubte er, seine Frau verspäte sich aus bloßer Unlust oder weil sie Pünktlichkeit verachte. Darüber gab es immer wieder Diskussionen, Ärger, Streit. Doch je länger er sie beobachtete, desto deutlicher wurde für ihn, dass dieses Hinauszögern, sobald es darum ging, eine Uhrzeit einzuhalten, nichts Oberflächliches war, die Nachlässigkeit einer verwöhnten Dame. Es rührte von etwas Tieferem her, einem ontologischen Zustand des Gemüts, denn ohne dass sie sich dessen bewusst wäre, überfiel sie, kaum dasssie einen Ort verlassen musste, ob ihr eigenes Zuhause, das einer Freundin oder ein Restaurant, eine verborgene Unruhe, eine Unsicherheit, eine dunkle, ursprüngliche Angst davor, aufbrechen zu müssen und den Ort zu wechseln, und dann fand sie irgendeinen Vorwand – nahm sich ein Taschentuch, entschied sich für eine andere Handtasche, suchte nach Schlüsseln, überprüfte, ob die Fenster geschlossen waren, der Fernseher ausgeschaltet, der Herd abgedreht oder das Telefon aufgelegt –, egal was, Hauptsache, das schreckliche Fortgehen ließ sich für ein paar Minuten oder auch nur Sekunden aufschieben.
    Ob sie schon immer so gewesen war? Auch als Kind? Er traute sich nicht, sie danach zu fragen. Aber er hatte festgestellt, dass mit den Jahren dieser Fimmel, Drang oder fatalistische Hang immer stärker wurde, so dass Rigoberto manchmal schon mit Schaudern dachte, vielleicht käme der Tag, an dem Lucrecia sich, mit der milden Höflichkeit eines Bartleby, der metaphysischen Lethargie oder Trägheit hingäbe und wie jener Melvillesche Held beschlösse, das Haus nicht mehr zu verlassen, vielleicht nicht einmal ihr Schlafzimmer, nicht das Bett. Sie hat Angst, aus dem Sein zu fallen, ihr Sein zu verlieren, kein eigenes Sein mehr zu haben, sagte er sich. Jedenfalls war es die Diagnose, zu der er, was die Verspätungen seiner Frau anbetraf, gelangt war. Die Sekunden vergingen, und Lucrecia ließ sich nicht blicken. Dreimal schon hatte er laut nach ihr gerufen, sie daran erinnert, dass es schon spät war. Sicher, seit Armidas Anruf mit der Nachricht von Ismaels plötzlichem Tod war sie ein einziges Nervenbündel, was diese Panik, sie könnte ihr Sein verlieren, es irgendwo vergessen wie einen Regenschirm oder einen Mantel, noch

Weitere Kostenlose Bücher