Ein diskreter Held
sah, wie viele Passanten dasKreuz schlugen, als der Leichenwagen vorbeifuhr. Die Angst vor dem Tod, dachte er. Er selbst hatte, soweit er sich erinnerte, nie Angst vor dem Tod gehabt. Zumindest bis jetzt nicht, korrigierte er sich. Bestimmt kommt ganz Lima.
Tatsächlich, ganz Lima war da. Das Lima der Großunternehmer, der Eigentümer von Banken, Versicherungen, Minengesellschaften, Fischfangflotten, Baufirmen, Fernsehsendern, Zeitungen, Haziendas und Farmen, darunter auch viele Angestellte der Gesellschaft, die Ismael bis vor wenigen Wochen geführt hatte, und selbst ein paar ganz einfache Menschen, die wohl für ihn gearbeitet hatten oder ihm etwas schuldig waren. Da waren ein Militär in vollem Wichs, wahrscheinlich Adjutant des Staatspräsidenten, der Wirtschaftsminister und der Außenhandelsminister. Zu einem kleinen Zwischenfall kam es, als man den Sarg aus dem Leichenwagen hob und Miki und Schlaks versuchten, sich an die Spitze des Geleits zu setzen. Es gelang ihnen nur für Sekunden, denn als Armida aus ihrem Wagen stieg, am Arm von Dr. Arnillas und umgeben jetzt nicht von zwei, sondern von vier Leibwächtern, bahnten diese ihr einen Weg bis in die erste Reihe, wo sie die beiden Zwillinge entschlossen zur Seite schoben. Nach einer kurzen Verwirrung überließen Miki und Schlaks ihren Platz der Witwe und gingen links und rechts des Sargs, hielten die Bänder und folgten dem Zug mit gesenktem Kopf. Die meisten der Trauernden waren Männer, aber es waren auch nicht wenige elegante Damen dabei, die, während der Priester das Gebet für den Verstorbenen sprach, Armida dreist beäugten. Viel war nicht zu sehen, denn unter dem schwarzen Hut verdeckte eine stattliche Sonnenbrille einen großen Teil ihres Gesichts. Claudio Arnillas – unter dem grauen Jackett trug er wie immer seine bunten Hosenträger – blieb neben ihr, und die vier Wachkerle bildeten hinter ihnen eine Mauer, die niemand zu durchbrechen versuchte.
Als die Zeremonie zu Ende, der Sarg in eine der Nischen geschoben und diese mit einer Marmorplatte verschlossen war, darauf in goldenen Lettern der Name Ismael Carrera und das Datum seiner Geburt und seines Todes – gestorben war er dreiWochen, bevor er zweiundachtzig wurde –, führten Dr. Arnillas, noch watschelnder als sonst, so sehr beeilten sie sich, und die vier Leibwächter Armida zum Ausgang, ohne irgendwem eine Ansprache zu gestatten. Rigoberto bemerkte, wie Miki und Schlaks, als die Witwe gegangen war, beim Grab stehen blieben, und viele kamen zu ihnen, um sie zu umarmen. Er und Lucrecia zogen sich ohne dergleichen Geste zurück. (Am Vorabend, bei der Totenwache, hatten sie den Zwillingen ihr Beileid ausgesprochen, und der Händedruck war eisig gewesen.)
»Fahren wir bei Armida vorbei«, schlug Lucrecia ihrem Mann vor. »Wenn auch nur kurz, vielleicht können wir mit ihr sprechen.«
»Na schön, versuchen wir es.«
Als sie nach San Isidro kamen, waren sie überrascht, nicht einen ganzen Schwarm parkender Autos vor dem Haus zu sehen. Rigoberto stieg aus, meldete sich an, und nach einigen Minuten des Wartens ließ man sie in den Garten durch. Dort empfing sie Dr. Arnillas. Er schien die Sache in die Hand genommen zu haben, mit den Umständen entsprechender Miene, aber offenbar traute er dem Frieden nicht. Er machte einen verunsicherten Eindruck.
»Armida bittet vielmals um Entschuldigung«, sagte er. »Sie war die ganze Nacht bei der Totenwache und hat kein Auge zugetan, wir haben ihr gesagt, sie muss sich hinlegen. Der Arzt hat ihr ein wenig Ruhe verordnet. Aber kommen Sie, gehen wir ins Gartenzimmer und nehmen wir eine Erfrischung.«
Rigoberto schnürte sich das Herz zusammen, als der Anwalt sie in das Zimmer führte, wo er seinen Freund vor zwei Tagen zum letzten Mal gesehen hatte.
»Armida ist Ihnen sehr dankbar« sagte Claudio Arnillas. Er sah besorgt aus und sprach mit Pausen, sehr ernst. Seine knalligen Hosenträger leuchteten jedes Mal auf, wenn sein Jackett sich öffnete. »Sie sagt, Sie sind die einzigen Freunde von Ismael, denen sie vertraut. Die Ärmste ist jetzt völlig hilflos, das können Sie sich vorstellen. Sie wird Ihre Unterstützung brauchen.«
»Entschuldigen Sie, Doktor Arnillas, ich weiß, das ist nicht der Moment«, unterbrach ihn Rigoberto. »Aber wer wüsste besser als Sie, was mit Ismaels Tod alles unerledigt geblieben ist. Haben Sie eine Vorstellung, was jetzt auf uns zukommt?«
Arnillas nickte. Er hatte sich einen Kaffee kommen lassen, hielt sich die Tasse
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