Ein diskreter Held
Ja, dachte er, ich habe meine Mitte verloren, und es gelingt mir immer noch nicht, sie wiederzufinden. Aber er wollte sich nicht entmutigen lassen. Es war nicht verwunderlich, dass er die Mitte verloren hatte, schließlich hatte er seit dem ersten Brief mit der Spinne nur in der größten Anspannung gelebt. Von allen Erklärungen, die ihm der Krämer Lau zum Qigong gegeben hatte, zu dieser Kunst, Gymnastik, Religion oder was immer er ihm da beibrachte und was seither zu seinem Leben gehörte, hatte er so richtig nur verstanden, dass es darum ging, »die Mitte zu finden«. Lau wiederholte es jedes Mal, wenn seine Hand zum Kopf ging oder an den Magen. Irgendwann hatte Felícito begriffen, dass »die Mitte«, die es zu finden und mit kreisenden Handflächen auf dem Bauch aufzuwärmen galt, bis man spürte, wie von dort eine unsichtbare Kraft aufstieg und einem das Gefühl gab zu schweben, dass diese Mitte nicht nur die Mitte seines Körpers war, sondern etwas Umfassenderes, ein Symbol der Ordnung und der Ruhe,ein Nabel des Geistes, der, sobald man ihn lokalisiert und unter Kontrolle hatte, dem Leben einen klaren Sinn und eine harmonische Struktur gab. In letzter Zeit hatte er das Gefühl gehabt – die Gewissheit –, dass seine Mitte aus dem Lot geraten war und sein Leben im Chaos versank.
Armer Lau. Sie waren eigentlich keine Freunde gewesen, denn für eine Freundschaft muss man sich verstehen, und der Chinese hatte nie Spanisch gelernt, auch wenn er fast alles verstand. Aber er sprach ein Möchtegernspanisch, bei dem man drei Viertel dessen, was er sagte, erraten musste. Und erst die kleine Chinesin, die mit ihm zusammenlebte und im Laden half. Auch sie schien die Kunden zu verstehen, aber nur selten traute sie sich, das Wort an sie zu richten, wohlwissend, dass ihr Kauderwelsch noch unverständlicher war als seines. Felícito glaubte lange Zeit, sie seien Mann und Frau, aber eines Tages, als sie dank Qigong diese Beziehung geknüpft hatten, die wie eine Freundschaft aussah, aber keine war, bedeutete ihm Lau, die kleine Chinesin sei in Wahrheit seine Schwester.
Laus Krambude lag am Rande des damaligen Piura, wo die Stadt und die sandigen Weiten sich berührten, bei El Chipe. Sie konnte ärmlicher nicht sein: eine kleine Hütte aus Stecken vom Johannisbrotbaum mit einem Wellblechdach und dicken Steinen obendrauf, geteilt in zwei Räume, einer für den Verkauf, ein bloßes Eckchen mit einer Ladentheke und plumpen Schränken, und ein anderer, wo die Geschwister wohnten, aßen und schliefen. Sie hatten ein paar Hühner, Ziegen, irgendwann auch ein Schwein, aber das wurde geklaut. Überleben konnten sie dank der Lastwagenfahrer, die auf dem Weg nach Sullana oder Paita vorbeikamen und dort hielten, um Zigaretten, Limonade, Kekse zu kaufen oder ein Bier zu trinken. Felícito wohnte nicht weit, in der Pension einer Witwe, Jahre bevor er in die Pension El Algarrobo zog. Das erste Mal, dass er an Laus Bude herantrat – es war sehr früh am Morgen –, stand der Mann dort, mitten im Sand und nur in Hosen, der spindeldürre Oberkörper nackt. Als Felícito sah, wie er diese seltsamen Übungen in Zeitlupe machte, packte ihn die Neugier, und er stellte ihmFragen, worauf der Chinese versuchte, ihm in seinem drolligen Spanisch zu erklären, was das war, was er da machte, ganz langsam die Arme bewegen, manchmal reglos wie eine Statue dastehen, mit geschlossenen Augen und, konnte man meinen, ohne zu atmen. Seither ging der Lastwagenfahrer, wenn er mal frei hatte, auf einen Sprung zu der Bude hinüber, um sich mit Lau zu unterhalten, sofern man das Unterhaltung nennen konnte, diese Gebärden und Grimassen, welche die Wörter so hilflos zu ergänzen suchten, dass sie beide manchmal, bei einem Missverständnis, in schallendes Gelächter ausbrachen.
Warum taten Lau und seine Schwester sich nicht mit den anderen Chinesen zusammen? Es gab eine ganze Reihe in Piura, Besitzer von Restaurants, Lebensmittelläden und Handelsgeschäften, einige sehr wohlhabend. Vielleicht, weil sie alle in einer viel besseren Lage waren als Lau und ihr Ansehen in Gefahr sahen, wenn sie mit diesem armen Teufel verkehrten, der wie ein primitiver Wilder lebte, ohne je die löchrige, speckige Hose zu wechseln oder seine beiden einzigen Hemden, die er meist offen trug, so dass man seine Knochen zählen konnte. Die Schwester war auch ein stilles Gerippe, wenngleich immer in Bewegung, denn sie fütterte die Tiere und besorgte bei den Händlern in der Umgebung die
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