Ein diskreter Held
Hüften. Sie war genauso angezogen wie am Vormittag und gab sich sehr ernst und konspirativ. Nachdem sie kullernden Blicks die Umgebung erkundet hatte, trat sie auf sie zu, und ohne auch nur für einen Gruß den Mund aufzutun, bedeutete sie ihnen, ihr zu folgen. So traten sie auf die Straße. Rigoberto, der fast nie trank, spürte von den beiden Whiskys einen leichten Schwindel, und das Lüftchen an der Plaza de Armas benebelte ihn noch mehr. Josefita führte sie um den Platz herum, an der Kathedrale vorbei und dann in die Calle Arequipa. Die Läden waren schon geschlossen, die Schaufenster hell und vergittert. Es waren nicht viele Menschen unterwegs. Beim zweiten Häuserblock zeigte Josefita auf die große Tür eines alten Hauses, die Fenster mit heruntergelassenen Rollos, und wortlos verabschiedete sie sich mit einem Wink. Don Rigoberto und Doña Lucrecia traten an die mit Nägeln beschlagene Tür, doch noch ehe sie klopfen konnten, öffnete die sich, und eine respektvolle männliche Stimme sagte leise: »Kommen Sie doch bitte, kommen Sie herein.«
Sie traten ein, und in der Diele, spärlich beleuchtet von einer einzigen Glühbirne, die im hereinwehenden Wind schaukelte, empfing sie ein kleingewachsener Mann in tailliertem Anzug und mit Weste. Er machte eine tiefe Verbeugung, während er ihnen eine winzige Hand reichte:
»Sehr erfreut, willkommen in diesem Haus. Felícito Yanaqué, zu Ihren Diensten. Kommen Sie, kommen Sie herein.«
Er schloss die Haustür und führte sie durch die schummrige Diele in ein kleines Wohnzimmer, das ebenfalls im Halbdunkel lag und wo ein Fernsehgerät stand und ein kleines Regal mit CDs. Rigoberto sah, wie sich eine Frauengestalt aus einem der Sessel erhob. Er erkannte Armida. Bevor er sie begrüßen konnte, kam ihm Lucrecia zuvor, welche die Witwe von Ismael Carrera fest umarmte. Beide Frauen fingen an zu weinen, wie zwei beste Freundinnen, die sich nach vielen Jahren zum ersten Mal wiedersehen. Als die Reihe an Don Rigoberto kam, hielt Armida ihm für einen Kuss die Wange hin, und er flüsterte: »Welch eine Freude, dich wohlbehalten wiederzusehen, Armida.« Sie dankte ihnen für ihr Kommen, Gott werde es ihnen vergelten, Ismael danke auch, wo immer er jetzt sei.
»Was für ein Abenteuer, Armida«, sagte Rigoberto. »Ich nehme an, du weißt, dass du die meistgesuchte Frau in Peru bist. Die berühmteste inzwischen auch. Von morgens bis abends sieht man dich im Fernsehen. Alle Welt glaubt, dass man dich entführt hat.«
»Ich weiß wirklich nicht, wie ich euch dafür danken soll, dass ihr die Reise nach Piura auf euch genommen habt.« Sie tupfte sich die Tränen ab. »Ich brauche eure Hilfe. Ich konnte nicht mehr in Lima bleiben. Diese Termine bei den Anwälten, denNotaren, die Treffen mit Ismaels Söhnen, es hat mich ganz kirre gemacht. Ich brauchte ein wenig Ruhe, um denken zu können. Ich weiß nicht, was ich ohne Gertrudis und Felícito getan hätte. Das ist meine Schwester, und Felícito ist mein Schwager.«
Eine irgendwie verwachsene Gestalt trat aus dem Schatten hervor. Die Frau, angetan mit einem Hemdkleid, streckte ihnen eine plumpe und verschwitzte Hand entgegen und grüßte sie mit einem Kopfnicken, ohne ein Wort. Neben ihr sah der Mann, offenbar ihr Gatte, noch kleiner aus, fast wie ein Kobold. Sie trug ein Tablett mit Gläsern und Limoflaschen:
»Ich habe eine kleine Erfrischung zubereitet. Bitte bedienen Sie sich.«
»Wir haben so viel zu besprechen, Armida«, sagte Rigoberto, »ich weiß gar nicht, womit ich beginnen soll.«
»Am besten mit dem Anfang«, sagte Armida. »Aber setzt euch doch. Ihr habt bestimmt Hunger. Gertrudis und ich haben auch etwas zu essen für euch gemacht.«
XIX
Als Felícito Yanaqué die Augen aufschlug, sang noch kein Vogel. Heute ist der Tag, dachte er. Das Treffen war um zehn, blieben fünf Stunden. Nervös war er nicht. Er würde es schaffen, die Selbstbeherrschung nicht zu verlieren, würde sich nicht von der Wut übermannen lassen und in aller Ruhe sprechen. Was ihn sein Leben lang gequält hatte, wäre für immer aus der Welt, und nach und nach löste sich auch die Erinnerung auf, bis sie aus seinem Gedächtnis verschwand.
Er stand auf, schob die Vorhänge zurück, und barfuß, in seinem Kinderpyjama, machte er eine halbe Stunde die Qigong-Übungen, wie der Chinese Lau sie ihm beigebracht hatte, langsam und konzentriert, so dass das Bemühen um Vollkommenheit in jeder einzelnen Bewegung sein ganzes Bewusstsein in Anspruch nahm.
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