Ein dunkler Ort
raus.«
»Wie denn?«, fragte Sandy mutlos. »Wir können nicht ans Telefon. Madame schließt das Büro immer ab. Das Tor am Ende der Auffahrt ist mit einem Vorhängeschloss zugesperrt und über den Zaun zu klettern ist unmöglich. Das weiß ich, weil ich es versucht habe. Diese Zacken obendrauf sind nicht nur Deko, sondern ganz schön echt.«
»Ich glaub, du übertreibst«, warf Ruth ein. Sie griff nach der Fernbedienung und stellte den Fernseher leiser, damit sie sich leichter unterhalten konnten. »In den Weihnachtsferien fahren wir nach Hause. Das ist schon bald. Und bis dahin … wie viele Leute in unserem Alter bekommen denn schon die Chance, an einem so außergewöhnlichen Experiment teilzunehmen?«
»Ehrlich, Ruth«, sagte Sandy erstaunt, »ich glaub wirklich, dass du das alles genießt. Dich scheint das gar nicht zu stören.«
»Am Anfang schon«, sagte Ruth. »Doch das war, bevor ich begriffen habe, was hier passiert, und jetzt … na ja, ich glaube, ich finde es eher aufregend als irgendwas anderes. Das muss man sich mal vorstellen! Wir haben die Gelegenheit, an etwas so Bedeutendem teilzunehmen. Das ist ein Durchbruch in der Wissenschaft. Und die Einblicke, die es mir verschafft, sind unglaublich. Ich habe Zugriff auf mathematische Konzepte, von denen ich mir früher nicht mal eine Vorstellung machen konnte.«
»Aber du bist es doch nicht, die auf diese Dinge zugreift«, wandte Kit ein. »Das ist jemand anders, der von deinem Verstand Gebrauch macht!«
»Nicht ganz«, sagte Ruth. »Das ist der Unterschied zwischen unseren Situationen. Du hast das Gefühl, benutzt zu werden. Du verstehst die Musik nicht, die du spielst. Du lässt sie einfach durch dich hindurchfließen, ganz mechanisch. Sandy macht es genauso mit ihren Gedichten. Aber in meinem Fall ist das anders, ich bin in der Lage, so gerade eben, die Bedeutung des Wissens einschätzen zu können, das durch mich hindurchkommt. Mathematik und Naturwissenschaften sind mein Ding, das war schon immer so. Ich habe das Gefühl, mein ganzes Leben in einem Kasten gesessen zu haben – und plötzlich hebt jemand den Deckel und ich kann hoch schauen und die Sterne sehen.«
»Dann dringt nicht so etwas wie eine Persönlichkeit in dein Bewusstsein ein?«, fragte Kit. »Nicht so, wie bei Sandy und mir?«
»Nicht, dass ich wüsste«, sagte Ruth. »Ich glaube, was ich empfange, ist möglicherweise so etwas wie das gesammelte Wissen von vielen verschiedenen Intellekten. Es könnten hundert verschiedene Mathematiker und Wissenschaftler sein, die ihre gesamten Gedanken und Theorien in meinen Kopf fließen lassen, und wenn ich all das aufnehmen und damit umgehen, daran wachsen und es schließlich sogar verstehen kann, dann wird die Zeit kommen, in der das alles auch mein eigenes Wissen sein wird.«
»So wie Lyndas Malerei ihr gehört?«, sagte Sandy verbittert. »Sie lebt in einer Welt, die keine Berührungspunkte mehr mit unserer hat.«
»Na, Lynda ist anders«, gab Ruth zu. »Irgendwie ist sie durchgedreht.«
»Sie ist besessen«, sagte Sandy.
»Wir müssen fliehen«, sagte Kit energisch. »Es muss einen Weg geben …«
Sie brach den Satz ab, weil sie Stimmen auf dem Flur hörte. Professor Farley erschien in der Tür. Sein runzliges Gesicht war so freundlich wie immer, und mit dem weißen Haar und dem kleinen Spitzbart sah er aus wie ein untergewichtiger Weihnachtsmann.
»Halb zehn«, sagte er. »Zeit für euch junge Damen, die Treppe hoch zu steigen und euren Schönheitsschlaf zu beginnen.«
Mit giftigem Blick stand Kit auf.
»Ich brauche keinen Schönheitsschlaf. Ich muss nur raus hier und nach Hause, mehr nicht. Mein Stiefvater ist Anwalt, wussten Sie das? Warten Sie nur, wenn er mitkriegt, dass ich hier gegen meinen Willen festgehalten worden bin, lässt er Sie hinter Gitter bringen.«
»Aber, Kit«, sagte der Professor, »auf solche Reden können wir verzichten. Deine Eltern haben dich für dieses Semester in unsere Obhut gegeben, und es wäre wirklich ziemlich nachlässig von uns, wenn wir dich einfach so auf und davon rennen lassen würden. Wir sind verantwortlich für dich, sowohl juristisch als auch moralisch.«
»Moralisch?«, knurrte Kit. »Sie wissen ja gar nicht, was das Wort bedeutet. Was ist mit all den Briefen, die wir an unsere Freunde und Familien geschrieben haben? Ich spreche von denen, die wir auf den Tisch in der Eingangshalle gelegt haben, damit Sie sie im Dorf für uns aufgeben? Sie haben sie gestohlen! Nennen Sie das
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