Ein echter Schatz
festgestellt, dass Tapferkeit und Blödheit zwei verschiedene Dinge sind. Bungee-Jumping zum Beispiel finde ich blöd. Nachts einem NVGler auf einem Friedhof nachzustellen ist in meinen Augen dagegen nicht ganz so blöd, aber der Gruselfaktor ist mittel bis hoch, also erfordert es eine gewisse Tapferkeit. Manchmal kann ich mich tatsächlich dazu zwingen, tapfer zu sein. Meistens ist die Tapferkeit begleitet von Übelkeit, aber wer ist schon perfekt.
»Sie können hier warten, wenn Sie wollen«, sagte ich zu Binkie.
Binkie machte die Tür auf und stieg aus dem Wagen. »Auf keinen Fall. Ranger würde mich umbringen, wenn Ihnen irgendwas passiert. Ich soll Sie nicht aus den Augen lassen.«
Lula kam zu uns und musterte Binkie. Er trug das Range-Man-Schwarz mit dem dazugehörigen gefüllten Gerätegürtel, und er war einen ganzen Kopf größer als Lula.
»Haben Sie Silberkugeln in Ihrer Glock?«, fragte Lula.
»Nein, Ma‘am.«
»Schade, hier wimmelt es nämlich heute Abend von Werwölfen, und die verjagt man nur mit Silberkugeln. Knoblauch und Kreuze und solchen Kram müssten wir uns eigentlich auch noch besorgen. Oder haben Sie so was dabei?«
»Nein, Ma‘am.«
»Hunh«, sagte Lula.
Ich ging los, den schmalen Weg entlang, der zu den Gräbern führte. Es war ein alter Friedhof, zwanzig Hektar groß, der sich über ein sanftes hügeliges Gelände erstreckte. Er war von Pfaden durchzogen, auf denen man zu Familiengrüften gelangte, in denen Generationen arbeitsamer Menschen ihre letzte Ruhe gefunden hatten. Manche Grabsteine waren aufwendig gestaltet, von Zeit und Wetter gezeichnet, aber es gab auch einfache flache, aus poliertem Granit, die erst kürzlich aufgestellt worden waren.
»Wo gehen wir eigentlich hin?«, wollte Lula wissen »Ich kann überhaupt nichts erkennen.«
»Die Bergs liegen gleich da vorne links. Auf halber Höhe.«
»Wie weit noch? Für mich sieht das alles gleich aus.«
»Hinter den Kellners. Myra Kellner hat oben auf ihrem Stein einen Engel eingraviert.«
»Begreife ich nicht, wie du dir so etwas merken kannst«, sagte Lula.
»Auf dem Parkplatz der Quakerbridge-Mall verläufst du dich regelmäßig, aber wo die Kellners und die Bergs hier liegen, weißt du auswendig.«
»Als ich klein war, bin ich oft mit meiner Mutter und meiner Oma hier gewesen. Meine Verwandten sind hier beerdigt.«
Diese Ausflüge auf den Friedhof habe ich geliebt als Kind.
Das Familiengrab wird, wie die Küche meiner Mutter, von den Frauen gepflegt.
»Das ist eure Großtante Ethel«, sagte Grandma Mazur zu meiner Schwester und mir. »Ethel war achtundneunzig, als sie starb. Eine stramme Frau. Nach dem Essen hat sie gerne Zigarre geraucht. Und sie hat Akkordeon gespielt. »Lady of Spain« konnte sie sogar auswendig.
Neben ihr liegt ihre Schwester Baby Jane. Baby Jane ist jung gestorben, wurde gerade mal sechsundsiebzig. Sie hat sich an einer Krakauer-Wurst verschluckt. Sie hatte keine Zähne mehr. Sie hat ihr ganzes Essen in Spucke aufgeweicht, aber Krakauer lässt sich schlecht aufweichen. Den Heimlich-Handgriff kannte man damals noch nicht. Und hier liegt euer Onkel Andy. Er war der kluge Kopf der Familie. Er hätte aufs College gehen können, aber dazu fehlte das Geld. Er starb als Junggeselle. Neben ihm liegt sein Bruder Christian. Wie Christian zu Tode gekommen ist, weiß niemand so recht. Eines Morgens lag er einfach tot im Bett. Wahrscheinlich das Herz.«
Für Valerie und mich war jeder Quadratzentimeter unseres Familiengrabes mit Erinnerungen besetzt, aber das gehörte zu dem Erlebnis dazu, wenn Grandma uns von Großtante Ethel erzählte. So wie es auch dazugehörte, dass wir den umliegenden Wald aus Grabsteinen erkundeten, während meine Mutter und meine Oma Blumen pflanzten. Oben, auf der Hügelkuppe, statteten Val und ich den Hansens, den Krizins-kis und den Andersons einen Besuch ab, die wir fast so gut kannten wie Tante Ethel und Baby Jane. Ostern setzten wir Maiglöckchen, am vierten Juli Geranien. Im Herbst kamen wir nur, um die Gräber sauber zu machen und zu gucken, ob es der Familie gut ging.
Später, als ich auf der Highschool war, bin ich nicht mehr zum Friedhof gegangen. Heute bin ich nur noch auf dem Friedhof, um endlich Simon Diggery festzunehmen. Meine Mutter und meine Oma pflanzen immer noch Maiglöckchen und Geranien. Und jetzt, wo meine Schwester wieder nach Burg gezogen ist, helfen bestimmt ihre drei Töchter meiner Oma bei der Grabpflege und hören zu, wenn sie von Ethel
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