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Ein ehrliches Angebot: Roman (German Edition)

Ein ehrliches Angebot: Roman (German Edition)

Titel: Ein ehrliches Angebot: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Frode Grytten
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Schnee zum Campingwagen stütze ich ihn. Nass und verschwitzt ziehe ich ihn ins Licht. Ich kette ihn wieder an den Küchentisch. Erneut hat er alle Worte eingebüßt.
    Ich bleibe sitzen und atme tief ein. Starre Kamprad an. Er starrt nicht zurück, womöglich hat er Angst, den Mut zu verlieren, wenn er mich anschaut. Er gehört jetzt mir, alt und blutig, aber er gehört mir. Zusammen werden wir zugrunde gehen. Ich denke über die große Anzahl Menschen nach, denen man in einem Leben begegnet. Über alle, mit denen man spricht, alle, von denen man profitiert oder die einen oben halten. Ohne Marny hätte mein Leben beispielsweise einem bleichen Mond geglichen. Alle, denen man begegnet, verändern einen, mehr oder weniger natürlich, in der Begegnung mit anderen wird man zu einem Menschen. Ohne andere ist man nichts. Ich denke an alle, die Kamprad getroffen haben muss, die Zehntausende, mit denen er gesprochen hat, die er gegrüßt hat, und dann begegnet er mir, einem zornigen Mann in einer Raststätte, einem Rächer aus dem Wald. Forscher haben herausgefunden, dass es im Gehirn eine Stelle gibt, der Empathie oder Sympathie zuzuordnen ist. Die biologischen Prozesse sind Teil der Fähigkeit des Gehirns, die Welt zu deuten, wie wir anderer Leute Gefühle oder Persönlichkeit erleben. In anderen existieren wir als die Summe der Zellen, die in den Prozess involviert sind, so wie die anderen in uns existieren. Das habe ich beim Versuch herauszufinden, was in Marnys Kopf passiert ist, gelesen. Mir wurde damals klar, dass dieser Teil meines Gehirns wohl unterentwickelt ist, meine Empathiezellen mussten mit den Jahren ernsthaft geschwächt worden sein. Möglicherweise neigen sie dazu, im Nachhinein zuzuschlagen, sie bleiben oft noch lange danach wirksam, so dass ich Beziehungen ruiniere, indem ich falsch reagiere, aber hier und jetzt kann ich nur zu dem Schluss kommen, dass meine Empathiezellen verschwunden sind.
    Ich hole trockene Kleider aus dem Wagen. Ich ziehe mich um und fordere Kamprad auf, sich auszuziehen. Er weigert sich. Er will nicht nackt vor mir stehen, das kann ich verstehen. Er ist ein dünner Mann, nicht gerade gut gebaut, diesen Eindruck habe ich heute Morgen im Hotel jedenfalls bekommen. Oder war es gestern? Ich komme mit der Zeit durcheinander. Nun, dann soll er in seinen Lumpen frieren. Ich schalte den Fernseher ein, Ebba stellt den richtigen Kanal ein. Den restlichen Abend verbringen wir über den Campingwagen verteilt, alle drei starren wir auf den schmutzigen Schirm. Die lokalen Nachrichten werden in die Luft gepumpt. Es folgen Ereignisse, die einen ganz normalen Tag ausmachen: Bakterienbefall auf einem Bauernhof, Stripperclub in Villengegend entdeckt, drei Einbrüche im selben Lebensmittelgeschäft. Ein Popstar, von dem ich zugegebenermaßen noch nie gehört habe, hat für ein Konzert in Jönköping weit weniger Karten verkauft als erwartet. Das Wetter morgen. Mehr Schnee. Nichts von Kamprad. Kein Film aus dem Campingwagen.
    Ich weiß natürlich, dass das Fernsehen ein Haufen Treibholz ist, an dem sich die Leute wärmen können, Gerümpel, das sie tagsüber einsammeln und abends anzünden. Aber ich hatte gedacht, mein Menschenkopf, wenngleich nicht ganz frisch gewaschen und mit wenig Haaren oben, wäre eine Attraktion zur besten Sendezeit. Nicht einmal Emma Eriksson will etwas von mir wissen. Ich muss das hier Punkt für Punkt durchgehen. Emma Eriksson hat die Videokassette erhalten, ich habe gesehen, wie sie sie an sich genommen hat, ich habe selbst die Aufnahmen von Ingvar Kamprad gesehen, noch in der Kamera. Ja, alles sollte nach Lehrbuch gehen. Nun, der Vorteil ist, dass ich vorläufig nicht gefangen genommen werde. Der Nachteil ist, dass auch Kamprad davonkommt. Was einem von uns passiert, passiert auch dem anderen.
    Als die Sendung vorbei ist, steht Ebba auf und geht zum Fenster. Sie sagt nichts, starrt nur nach draußen, als liefe die Sendung dort weiter. Jetzt sind wir weit weg von den Filmen, die sie sich jeden Abend im Fernsehen anschaut, denke ich. Und sage es zu ihr: Das sind andere Filme als die, die du im Fernsehen siehst. Sie protestiert. Ich sehe nie fern, sagt sie. Nicht? Nein, meine Mutter erlaubt es mir nicht, sie behauptet, das sei das Einzige, was sie wirklich hingekriegt hat, dass ich nicht vorm Fernseher hänge. Ingvar Kamprad tönt von seinem Etagenbett: Die Aufnahmen werden sie niemals ausstrahlen. Nicht?, frage ich. Nein, das ist doch offensichtlich, sagt Kamprad.

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