Ein ehrliches Angebot: Roman (German Edition)
Leute waren der Ansicht, das Neue Theater sei der Zweitwagen der Frau Brink, das Hochzeitsgeschenk ihres Direktorengatten. Aber Direktor Brink hatte mit dem Theater nichts am Hut, wenn man einmal davon absah, dass er vermutlich der Einzige war, der alle Inszenierungen gesehen hatte. Sein Beitrag bestand darin, dass er seiner Frau Arvid Lunde empfahl, als sie die Rollenbesetzung für Der Mann ohne Eigenschaften in Angriff nahm. Sie rief Lunde an und lud ihn zum Mittagessen ein, aber er durfte sich dann doch nicht an der Figur versuchen. Im Einfamilienhaus in Erraflot kam es zum Streit. Hast du das Buch gelesen?, fragte Frau Brink ihren Mann. Natürlich, sagte er, und Arvid Lunde ist perfekt, er ist tatsächlich ein Kerl ohne Eigenschaften, die reinste Mittelmäßigkeit. Daraufhin wollte sie wissen, was ihr Mann für mittelmäßig halte. Wie meinst du das?, fragte er. Tja, könnte es vielleicht sein, dass du selbst mittelmäßig bist?, fragte sie. Direktor am Gymnasium Odda, nennst du das eine Karriere? Und du mit deinem Hausfrauentheater! Hausfrauentheater?, fragte sie zurück. Um ihren Gatten zu ärgern, wählte Elise Brink Arvid Lunde für die Inszenierung von Der Untergang Griechenlands . Vor einem Publikum von sieben Personen gab Lunde sein Bühnendebüt als antiker Dichter Antoninus Liberalis. Das ganze Theater war der inkarnierte Snobismus, aber Elise Brink hatte keine Kinder, und die Leute nannten das Theater ihr Baby, sie hegte und pflegte ihr Baby wie Gaga-Lise in Odda ihre Puppe, so als wüssten sie beide nicht, wie sie ihren Ersatzkindern Leben einhauchen sollten.
Vielen in Odda wird es noch heute warm ums Herz, wenn sie an Frau Brink denken, es hatte etwas heroisch Selbstzerstörerisches, wie sie das Theater gegen die Wand fuhr, um sich zu retten. Mit harter Hand hielt sie bis weit in die Achtzigerjahre hinein an der seriösen Linie fest, dann zog das Direktorenpaar überraschend aus Odda fort. Im Herbst schon nahm das Theater seine Tradition volksnaher Tür-auf-Tür-zu-Komik wieder auf und gab vor ausverkauftem Haus achtzehnmal Die polnische Dirne kehrt zurück .
Am 6. Juni 1982, einem schönen Sonntagmorgen, füllen sich fünf Busse mit Tyssedalbewohnern und Oddaern. Ein perfekter Tag für eine Busfahrt, die Leute singen und grölen, sie wollen nach Oslo, sie wollen die Willoch-Regierung stürzen. Als sie in Odda losfahren, brüllt ein Mann im ersten Bus der Kolonne ins Mikrophon: Der Strom gehört uns! Und der Strom soll in Tyssedal zum Einsatz kommen! Alle jubeln. Ganz hinten im fünften und letzten Bus sitzt Arvid Lunde. Er ist ganz in Weiß gekleidet, kurzärmeliges Hemd und seine übliche Hochwasserhose. An den nächsten Tagen wird er die Schule schwänzen, die Delegation wird kaum vor Dienstagabend zurück sein, und Arvid Lunde war nicht davon ausgegangen, dass Direktor Brink ihn beurlauben würde. Er kann nicht ins Büro eines eingefleischten Konservativen gehen und nach Urlaub fragen, um die bürgerliche Regierung zu stürzen. Zunächst soll die Regierung gestürzt werden. Alles andere sehen wir später. Die Busse haben an der Windschutzscheibe rote Flaggen, und oben in der Scheibe steht SONDERFAHRT. Noch vor Seljestad erschallen die Kampflieder.
Heut ist ein schöner Junitag
Im Jahre zweiundachtzig
Wir hissen Fahnen und auch Flagg
Zum großen Kampf versteht sich
Denn heute geht’s um die Fabrik
In Tyssedal und Odda
Und heute wollen wir den Sieg
Der Industrie – und basta!
Vor dieser Tyssedalgeschichte war Arvid Lunde ein anonymer Mann gewesen, der mit seinen zu korrigierenden Heften durch die Straßen lief. Spitze Zungen in den Kneipen behaupteten später, Arvid Lunde habe zu lange im Lehrerzimmer gesessen, brachte man dort täglich mehrere Stunden zu, ergraute man unweigerlich nicht nur am Kopf. Die Lehrer rauchten damals wie die Schlote, und wenn über dem Tal hin und wieder Nebel und Fabrikrauch hing, sagten die Leute: Heute wird mal wieder das Lehrerzimmer gelüftet. Andere waren der Meinung, über Arvid Lunde habe sich der Ruß des Schmelzwerks gelegt. Bis weit in die Neunzigerjahre hinein konnten die Leute ihre Wäsche nicht im Freien aufhängen, denn alles wurde grau. Der Einzelhandel verkaufte nur graue oder schwarze Unterwäsche, einen Markt für weiße Unterwäsche gab es in Odda nicht. Der prozentuale Anteil an schwarz- und graulackierten Autos stieg zu einem bestimmten Zeitpunkt auf über achtzig an, der Rest fuhr aus politischen Gründen in roten Autos durch die Gegend.
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