Ein ehrliches Angebot: Roman (German Edition)
Cyaniden, Motorschäden in der Lauge, stark ramponierte Schamottsteine bei den Karbiden, Rohrbrüche in Tysso I, das Kraftwerk würde von Wasser überschwemmt werden, in Ofen 3 würde Ferrosilicium durch den Boden sickern. Ja, innerhalb von zwei oder drei Schichten käme es zur Katastrophe. Die Leute können Bücher lesen, bis sie schwarz werden, aber es nützt ihnen gar nichts, wenn man Carbide, Cyanide oder Zink herstellen will. Nehmen wir unseren ewigen Studenten. Im Alter von 45 Jahren hatte er fünf oder sechs Studiengänge an der Universität Oslo absolviert, aber der Typ wurde von Tag zu Tag dümmer. Das ganze theoretische Wissen schien seine Fähigkeit zum praktischen Denken und zu körperlicher Arbeit zu verdrängen. Er wusste so gut wie alles über Philosophen, Jura, Ethik, Ideengeschichte, das Wahlsystem in Großbritannien und den Zusammenbruch des Römischen Reiches, trotzdem konnte er als Aushilfsarbeiter nur dazu eingesetzt werden, im Schmelzhaus den Boden zu fegen. Der Bürgermeister zog an jenem Abend einen Stuhl vom Tisch weg. Er zeigte darauf und bat Arvid Lunde, Platz zu nehmen. Die Partei diskutierte gerade Strategien für die wichtige Gemeindewahl 1983, ob Arvid Lunde sich beteiligen wolle? Der Bürgermeister wusste, dass sie vor einem ideologischen Richtungswechsel standen, die rechten Kräfte hatten zugenommen, Thatcher, Reagan und Willoch wollten die Gesellschaft umformen, während die Sozialdemokraten die Hände tief in den Taschen vergraben hatten. Die Arbeiterpartei brauchte alle Mitstreiter, die sie kriegen konnte, egal, was die Leute anhatten und wie sie aussahen. Arvid Lunde machte die Runde und begrüßte alle Parteimitglieder per Handschlag. Dann nahm er zwischen dem Bürgermeister und dem Kassenwart Platz. Er stellte den Stuhl auf die richtige Höhe ein, zog einen Stift aus der Innentasche seiner Jacke und ein leeres Blatt Papier aus der Aktenmappe.
Für Arvid Lunde bestand die erste politische Herausforderung darin, oben in Mannsåker einen angriffslustigen Köter abzuwehren, damit er das Werbematerial in den Briefkasten werfen konnte. Die Partei schickte Lunde ins Gelände, um ihn zu testen, sie wollte wissen, wie weit sein Engagement in der Sache reichte. Als einfaches Mitglied klopfte Arvid Lunde an fast alle Türen in Odda, redete mit unzähligen Menschen am Stand in der Fußgängerzone, verteilte Broschüren, war der Postbote der Sozialdemokratie. Als er im Jahr darauf zur besten Sendezeit in den Nachrichten auftauchte, dachten viele Oddaer: Woher kennen wir den? Den Kerl haben wir schon mal gesehen! Die Oddaer waren ansonsten der Meinung, dass die Führungsriege der Arbeiterpartei damals neue Leute rekrutierte, um selbst zu Hause bleiben und mit gutem Gewissen den Denver-Clan gucken zu können. Diese Clique machtgeiler Pragmatiker nutzte Menschen wie Arvid Lunde für die Drecksarbeit aus. Die Partei hatte nach dem Krieg die Lokalpolitik vollständig dominiert. Seit 1951 war ein AP-Bürgermeister auf den anderen gefolgt. Hatte man in Odda das richtige Parteibuch, regelte sich fast alles von allein. Die Arbeiterpartei benahm sich so, als wäre die Gemeinde eine Verlängerung der Partei und die Partei eine Verlängerung der Gemeinde. Odda war ein einziger riesiger Parteiapparat. Hierin liegen einige der Gründe dafür, dass die Führungsriege der Arbeiterpartei skeptisch war, wenn es darum ging, neue Mitglieder in den innersten Kreis einzulassen. Sie fürchteten, entlarvt zu werden, denn im Laufe der Jahre hatten sie sich jede Menge Vorteile verschafft, die vor Kämmerern, Stadträten und politischen Gegnern geheim gehalten wurden. Es ging zumindest das Gerücht, die Führungsriege habe Zugriff auf Autos und Nutzfahrzeuge, verfüge zu Hause über Kopierer und Faxgeräte, bekäme kostenlose Zeitungs- und Zeitschriftenabonnements, ließe sich die Rundfunkgebühren bezahlen, habe im Zentrum eigene Parkplätze und speise im Sportscafé besonders günstig. Die Leute behaupteten, die AP-Spitzen hätten sich Garagen und Terrassen finanzieren lassen, bekämen Rabatte in den Geschäften und Auslagenerstattungen für fiktive Fahrten. Es handelte sich um eine lokale Spielart der allseits bekannten Führungskräftekrankheit, die Menschen blind und taub machte. Doch die AP-Spitzen waren der Meinung, sie hätten ein Recht auf sämtliche Vergünstigungen, schließlich führten sie die Kommune, und das auch noch verdammt gut, und das mindeste, was man verlangen konnte, war, dass für die
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