Ein ehrliches Angebot: Roman (German Edition)
angeblich mehrmals vermessen, alle möglichen Proben genommen und ihn sogar zur weiteren Untersuchung ins Rikshospital überwiesen. Alle Werte waren normal, wenn man einmal davon absah, dass der Mann im Alter von 34 Jahren noch einmal zu wachsen begonnen hatte. Im Pass stand, er sei 180 Zentimeter groß, norwegischer Durchschnitt, diese Größe war auch bei der Musterung gemessen worden. Jetzt war Arvid Lunde bei 191 Zentimetern angelangt. Statistisch gesehen war der Norweger im Lauf der Geschichte nicht unverändert geblieben, vor zweihundert Jahren hatte der Durchschnittsnorweger weit unter 170 Zentimetern gelegen, erst in den letzten Jahrzehnten war die Durchschnittsgröße um je einen Zentimeter gestiegen. Aber von einem vergleichbaren individuellen Wachstum im fortgeschrittenen Alter hatten wir noch nie gehört. Der Arzt erklärte das Phänomen mit möglichem Stress und war der Meinung, der Patient solle es etwas ruhiger angehen lassen. Arvid Lunde lachte. Stress? Wie sollte Stress elf zusätzliche Zentimeter erklären? Lunde selbst hatte lediglich ein Murren in den Knochen gespürt, aber er hatte es nicht als Wachstumsschmerzen ausgelegt. Grace hatte davon gesprochen, dass die neuen Anzüge an Armen und Beinen zu kurz wirkten. Sie sei davon ausgegangen, dass er den alten Kleiderstil hinter sich gelassen habe, sagte sie, aber auch die Anzüge von Topman und Armani waren auf mysteriöse Weise zu Hochwasserhosen geworden. Ich glaube, du bist gewachsen, hatte Grace schließlich gesagt. An mir wächst alles, hatte Arvid erwidert. Der Arzt sagte, Arvid Lunde müsse sich darauf einstellen, dass er weiterwachse. Er könne nichts ausschließen, da ihm ein solcher Fall noch nie begegnet sei. Arvid rief Grace von der Arztpraxis aus an, als ihm das Ergebnis der Messung vorlag. Stell dir vor, ich bin elf Zentimeter gewachsen, sagte er. Das ist nicht möglich, erwiderte sie. Das stimmt, entgegnete er. Was sollen wir tun? Tja, was können wir tun?, fragte Grace. Sie erzählte, dass sie ebenfalls beim Arzt gewesen sei. Tatsächlich?, fragte er. Warum? Weil mein Bauch gewachsen ist. Aha, sagte er. Was können wir dagegen tun? Tja, was können wir tun?, fragte sie. Sie lachten. So war es. Beide waren gewachsen. Er in die Höhe. Sie in die Breite. Er war eine medizinische Sensation. Sie im dritten Monat.
Arvid Lunde war ständig in Bewegung. Oslo, New York, Frankfurt, Stockholm, Puerto Banús. Zusammen mit Grace. Zusammen mit CC. Zusammen mit Arnold Øvrebø. Die Städte am Morgen. Die Städte am Abend. Einer Illustrierten erzählte Lunde von einem phantastischen Hotel, das oben in den Schweizer Alpen lag. Er erzählte, dass er und Grace gern an Orte fuhren, wo sonst niemand hinfuhr. Mit dem Moped durch die Dominikanische Republik zu fahren sei ein besonderes Erlebnis gewesen. Wir konnten lesen, dass er zum Sklaven seines eigenen Geschmacks geworden war. Im Theatergrill in Stockholm aß er stets das gleiche Gericht, er ging auf der Karte noch einmal alle Angebote durch, aß am Ende aber stets das Gleiche. In der Trattoria in New York brauchte er nicht einmal nach der Speisekarte zu fragen, dort wussten sie, was er wünschte. Er benutzte einen Schirm von Maglia, die Italiener stellten in der fünften Generation phantastische Schirme her. Auf Reisen ging er mit einer Ledertasche, die er bei R. Horn’s in Wien erworben hatte, einer Tasche aus weichem Leder, die die anderen Fluggäste vor Neid erblassen ließ, wenn er sie im Handgepäckfach verstaute. Den besten Kaffee und die besten Kuchen bekam man in der Bar Alba in Palermo, das wusste er, weil er früher Kaffeeverantwortlicher im Gymnasium Odda gewesen war. Arvid Lunde sagte, Teppichboden in einem Hotelzimmer komme für ihn nicht in Frage, man wisse nie, was sich in einem solchen Teppich verstecke. Er entschied sich stets für klassische Hotels mit einer Lobby, in der sich die unterschiedlichsten Menschen aufhielten. Er stieg in Hotels ab, in denen man schnell und gut essen konnte, er hatte es oft zu eilig, um in Städten, die er nicht in- und auswendig kannte, nach guten Restaurants zu suchen. Wenn er Grace oder gemeinsame Freunde überraschen wollte, nahm er sie am liebsten mit nach Paris. Überraschend viele Leute waren noch nie in Paris gewesen, jedenfalls nicht in seinem .
Irgendwann im Frühling 1986 war Arvid Lunde in der Oddaer Fußgängerzone aufgetaucht, in einem dunklen Anzug, der Eleganz und sicheren Geschmack ausstrahlte, er schwebte geradezu, bog um das
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