Ein Elefant im Mückenland
Befestigungsanlagen waren in der heißesten Phase im Sommer 1944 mehr als dreißig-tausend Mann beteiligt. Es war die größte finnische Baustelle aller Zeiten gewesen, größer noch als der Bau der Atomkraftwerke: insgesamt 728 Basisbefestigungen, 3000 hölzerne Feldbefestigungen, 720 Unterstände, 1250 Maschinengewehrnester, 400 Artilleriebeobach-tungsstellen, 500 Geschützstellungen – und insgesamt 350 Kilometer Schützengräben. Aus tonnenschweren Steinen waren mehr als 200 Kilometer Panzerhindernis-linien gebaut worden, dazu 130 Kilometer Kanäle und Hangeinschnitte. Hinter der Linie waren mehr als 200 Kilometer Straße gebaut worden, denn schließlich war die finnische Ostgrenze mehr als tausend Kilometer lang. Kurzum, in diesen Anlagen gab es notfalls Nacht-quartiere für eine ganze Elefantenherde.
Paavo wollte von Lucia wissen, wie sie auf die Idee mit dem Künstlernamen Lucia Lucander gekommen war.
»So hieß die Mutter meiner Großmutter, sie arbeitete im neunzehnten Jahrhundert als Magd in einem Pfarr-haus.«
Lucia erzählte, dass es in ihrer Familie durchaus nicht nur Knechte und Mägde, sondern auch hohe Herren gegeben hatte, zum Beispiel Artillerieoberst Justus Lucander, der die Artilleriestellungen der Salpalinja in den Saimaa-Schären geplant hatte.
Der Bus der Gruppe »Freiheit für den Elefanten« traf am Nachmittag in Luumäki ein. Drinnen saßen fünfzehn Aktivisten aus Tampere, die unterwegs, manchmal recht heftig, über den Sinn dieses Ausflugs und die Berechti-gung ihrer Sache diskutiert hatten. Sie waren sich nicht schlüssig, ob es wirklich die Mühe lohnte, sich in das Elefantenproblem einzumischen. Ein wütender Bauer und ein großer Elefant erwarteten sie. Wie sollten sie die Sache abwickeln, sollten sie in Verhandlungen treten? Das erschien ihnen unmöglich, der Bauer war dermaßen aufbrausend, dass er sich garantiert nicht überreden ließ, und auch die Zirkusprimadonna würde nicht gut-willig auf ihr Tier verzichten.
Was sollten sie mit dem Elefanten machen, falls es ihnen wider Erwarten gelang, ihn zu befreien? Sie müss-ten ihn nach Indien schaffen und also eine öffentliche Geldsammlung initiieren, damit möglichst viele Mitglie-der der Gruppe den Südostasientrip mitmachen konn-ten. Eigenes Geld für dieses Projekt besaßen sie nicht. Die Hauptsache war, den Elefanten zu retten. Im Ex-tremfall musste er eingeschläfert werden, dann wären seine Leiden im kalten Norden zu Ende. Jemand zitierte ein geflügeltes Wort aus dem Keulenkrieg, dem großen finnischen Bauernaufstand: Besser als ein Sklavenleben ist der Tod am Galgen. Sie könnten mit dem Elefanten zum Beispiel auf den Marktplatz von Lappeenranta ziehen und, ehe sie ihn einschläferten, eine große Pres-sekonferenz geben. Ein positives öffentliches Echo wäre ihnen gewiss.
In der Stadt dann wurden sie sofort mit der harten Wirklichkeit konfrontiert. Am Motel sahen sie auf der Straße den riesigen Elefanten, und auf seinem Rücken, unter einem großen blauen Stoffdach, zwei Menschen. Sofort stoppten sie ihren Bus und stürmten nach drau-ßen. Über Lautsprecher forderten sie die Reiter auf, anzuhalten und zu verhandeln.
Paavo stieg herunter und brüllte sofort herum. Lucia versuchte ihn zu besänftigen, vergebens. Emilia er-schrak über die Lautsprecherbeschallung und Paavos Gebrüll. Elefanten sind sensible Tiere und werden schnell nervös. In besonders schweren Fällen wird dar-aus aggressive Wut. Der Busfahrer fuhr an den Straßen-rand und begann zu wenden. Die Situation eskalierte schnell. Paavo stürmte auf die Gruppe der Aktivisten zu, die sich hinter den Bus zurückzog. Emilia tänzelte ner-vös mitten auf der Straße. Sie schwenkte ihre großen Ohren, sie war außer sich. Sie hatte zwar in ihrem Leben schon dies und das erlebt und war jahrelang in der Welt umhergezogen, aber noch nie war sie in eine so bedrohliche Situation geraten. Lucia rief Paavo vom Bus zurück. Widerwillig tat er ihr den Gefallen, schimpfte aber weiter herum. Die Gruppe schrie im Chor ihre Antworten, die in Demos geschulten Leute brachten es auf einen gehörigen Geräuschpegel. Die ganze Umge-bung hallte, der Verkehr aus Richtung Lappeenranta kam zum Stehen, auch in Richtung Kouvola kam es zu Staus. Autos hupten, der Lärm war enorm.
Emilia war vor Angst außer sich. Sie fühlte sich be-droht, ergriff aber nicht etwa die Flucht, sondern mach-te Anstalten, sich zu verteidigen. Sie wedelte mit den Ohren, brüllte dumpf, reckte die
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