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Ein endloser Albtraum (German Edition)

Ein endloser Albtraum (German Edition)

Titel: Ein endloser Albtraum (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: John Marsden
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Boden unter den Füßen verloren, es gab keine Mauern mehr, die uns Schutz und Sicherheit boten. Unser Leben war mit einem Schlag ein unfassbarer und nicht enden wollender Albtraum geworden, der von uns verlangte, dass wir unsere eigenen Regeln aufstellten und unsere Werte auf den Kopf stellten; ein Albtraum, in dem wir blindlings von einem Ereignis zum nächsten taumelten und bestenfalls hoffen durften nicht zu viele Fehler zu machen. Wir klammerten uns an das, was wir wussten und von dem wir dachten, dass es das Richtige war, aber auch das wurde uns zusehends genommen. Wer weiß, vielleicht würden wir am Ende vollkommen entblößt sein; vielleicht würden wir aber auch nach einem ganz neuen System leben, mit neuen Regeln und Einstellungen und Verhaltensweisen, die so anders waren, dass wir uns selbst nicht mehr wiedererkennen würden. Am Ende wären wir vielleicht so verzerrt und verformt, so anders, dass wir mit den Menschen, die wir früher waren, gerade noch äußerlich Ähnlichkeit hatten.
    Natürlich gab es auch Momente – manchmal sogar Tage –, in denen unser Verhalten »normal« war, beinahe so wie in den alten Zeiten. Aber dasselbe war es nicht. Denn nicht einmal diese Momente ließen sich von dem trennen, was mit uns geschehen war, von dieser furchtbaren neuen Wirklichkeit, in die man uns hineingezwungen hatte. Es schien kein Ende absehbar, nichts deutete darauf hin, was aus uns werden würde. Wir überlebten einfach von einem Tag auf den anderen.
    Homer hatte sich über den Soldaten gebeugt und begonnen seine Taschen zu durchsuchen. Wir sahen ihm schweigend zu, während er die Gegenstände hervorholte und zu einem kleinen Haufen zusammenlegte. Es war schwierig, in der Dunkelheit Einzelheiten auszumachen, doch da waren eine Brieftasche und ein Messer und ein Schlüsselbund. Aus der Brusttasche holte er eine kleine Taschenlampe, nicht größer als ein Kugelschreiber, die er andrehte. In dem Lichtstrahl konnte ich sehen, wie schwer verletzt der Soldat war. Das Blut drang ihm aus den Ohren und aus der Nase, und seine Haare oberhalb der Stirn waren feucht und klebrig. Erst jetzt sah ich, wie jung er war. Vielleicht sogar jünger als wir. Seine Haut war vollkommen glatt, als hätte er sich noch nie rasiert. Ich musste mich mit aller Macht daran erinnern, dass er ein potenzieller Vergewaltiger, ein potenzieller Mörder war. Ich wusste aber auch, dass ich ihn nicht töten könnte.
    »Wir könnten ihn woanders hinbringen. Weit weg von hier«, sagte Robyn voller Zweifel in der Stimme. »Damit sie die Verbindung zwischen dem Baum und der Steilwand nicht herstellen.«
    »Und wenn er aufwacht?«, fragte ich. »Wir sind keine Mediziner. Wer weiß, was dann passiert.«
    »Er muss eine schwere Gehirnerschütterung haben«, erwiderte Robyn mit noch mehr Zweifel in der Stimme. »Wahrscheinlich erinnert er sich nicht einmal, wer er ist oder was geschehen ist.«
    Keiner von uns machte sich die Mühe, auf die Schwachstellen ihres Vorschlags hinzuweisen.
    Wir schwiegen und beobachteten ihn. Nach einer halben Stunde wurde klar, dass uns der junge Soldat die Entscheidung abnehmen würde. Es war ihm anzusehen, dass ihn sein Leben verließ, aus ihm herausfloss wie ein langsamer Fluss. Er starb vor unseren Augen und wir sahen zu, ohne ein Wort zu sagen, ohne das Geringste für ihn zu tun, obwohl ich bezweifle, dass wir noch viel hätten tun können. Ich war traurig. In der kurzen Zeit, seit wir bei ihm saßen, war in mir immer mehr das Gefühl entstanden, ihn zu kennen, als wüsste ich auf eine seltsame Weise, wer er war. Dieser Tod, der sich Zeit ließ, langsam und beinahe sanft eintrat, schien so persönlich, so nahe. Indem er ihn berührte, berührte er uns. Homer schaltete alle Viertelstunden die Taschenlampe ein, die wir trotz der Dunkelheit unter den Bäumen eigentlich gar nicht mehr gebraucht hätten. Jedes Mal wenn sich seine Brust hob und wieder senkte, konnte ich die Bewegung deutlich sehen und es war, als spürte ich dieses Ringen um jeden Atemzug am eigenen Leib. Ich fing an den eigenen Atem anzuhalten, sobald er ausgeatmet hatte, und wünschte ihm, dass er noch etwas Luft bekäme. Mit der Zeit wurden die Atemzüge leichter und die Pausen dazwischen immer länger. Er rang mit dem Tod, und hätte man ihm eine Feder auf die Lippen gelegt, sie hätte bei jedem Atemzug vielleicht noch leise gezittert, aber sie hätte sich nicht mehr gehoben.
    Es war eine kalte Nacht gewesen und auch der Morgen war kalt, aber dieses eine

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