Ein endloser Albtraum (German Edition)
an den Geschichtsunterricht im siebten Schuljahr.
»Lies noch einmal vor«, bat Lee.
Robyn wiederholte den Satz.
»Ich weiß nicht, ob wir weiser geworden sind«, sagte Lee. »Und ich glaube nicht, dass wir durch diese Geschichte frei geworden sind.«
»Vielleicht doch«, erwiderte ich und versuchte den Gedanken weiterzuführen. »Im Vergleich zu früher, und das ist erst ein paar Monate her, haben wir uns ziemlich verändert.«
»Wie denn?«
»Sieh dir Homer an. In der Schule hat er sich aufgeführt wie Attila der Affe. Ich meine, ehrlich, Homer, du musst zugeben, dass du ein hoffnungsloser Fall warst. Du bist den ganzen Tag nur rumgehangen und hast zu allem deine obergescheiten Kommentare abgegeben. An dem Tag, als das hier anfing, hast du dich verändert. Seither bist du so was wie ein Star, verstehst du. Du warst es, der die Ideen hatte, und du hast uns dazu gebracht, Dinge zu tun, die wir ohne dich nie getan hätten. Ich glaube, seit dem Hinterhalt auf den Konvoi ist dir ein wenig der Saft ausgegangen, aber das ist auch kein Wunder. Das war scheußlich.«
»Ich hatte Unrecht, was die Schrotflinte betrifft«, sagte Homer. »Ich hätte sie ohne euer Wissen nicht mitnehmen dürfen. Das war blöd.«
Homer war rot geworden und schaute keinem von uns in die Augen. Es kam so selten vor, dass Homer von sich aus einen Fehler zugab, dass ich mir die ätzende Bemerkung verkniff, die mir auf der Zunge lag. In Wirklichkeit war er nicht ganz im Unrecht gewesen – davon hatte er mich bei unserem Streit in der Hölle überzeugt. Aber jetzt, in diesem Moment, hatte er bewiesen, um wie viel klüger er geworden war. Ich zwinkerte ihm zu und tastete nach seiner Hand, bis ich sie fest in der meinen hielt. In diesem Moment berührte ich die beiden Jungs, die ich am meisten liebte, und es wurde mir bewusst, dass ich eigentlich vom Glück gesegnet war.
»Und du, Lee«, fuhr ich fort. »Früher schienst du immer so sehr in dein eigenes Leben verstrickt. Du hast Geige gespielt und für die Schule gelernt und im Restaurant geholfen – viel mehr war da nicht. Jetzt bist du zwar immer noch ein komplizierter Mensch, aber du gehst viel mehr aus dir heraus und du bist entschlossen und stark.«
»Und geil«, fügte Homer leise hinzu. Ich verpasste ihm einen harten Klaps auf die Hand. Lee muss ihm auch einen entsprechenden Blick zugeworfen haben, zumindest nach Homers Gesichtsausdruck zu urteilen.
»Robyn, du warst immer schon stark und klug. Du hast dich, glaube ich, nicht so sehr verändert. Du hältst nach wie vor an den Dingen fest, an die du glaubst, und das finde ich erstaunlich. Irgendwie bist du viel gelassener und sicherer als wir anderen. Ich glaube, du hast die Weisheit, von der auf dem Denkmal die Rede ist.«
Robyn lachte. »Ich bin nicht weise. Ich versuche nur herauszufinden, was Gott von mir erwartet.«
Darauf wusste ich nichts zu sagen. Mein letztes Thema war Fi. »Fi, bei dir habe ich das Gefühl, dass du freier geworden bist. Ich meine, denk einmal nach, wie du vorher gelebt hast. Du hast in einem großen Haus gewohnt und Klavierstunden genommen und bist bei den Reichen und Berühmten ein und aus gegangen. Jetzt schläfst du seit Monaten im Busch, kämpfst in einem Krieg, jagst Dinge in die Luft, kümmerst dich um die Hühner und baust Gemüse an ... im Vergleich zu früher ist das eine Art Befreiung.«
»So wie früher könnte ich nicht mehr leben«, sagte Fi. »Klar, auf die Dauer möchte ich auch nicht so wie jetzt leben. Aber wenn der Krieg morgen zu Ende wäre, könnte ich nicht so tun, als wäre nichts gewesen, und mir den Kopf über die Blumenarrangements für die Abendgesellschaften meiner Mutter zerbrechen und ob ich das richtige Papier verwende, wenn ich die Zusagen für irgendwelche Einladungen schreibe. Ich weiß nicht, was ich tun würde, aber es müsste etwas Sinnvolles sein, etwas, womit ich verhindern könnte, dass so etwas noch einmal geschieht.«
»Jetzt bist du an der Reihe, Ellie«, sagte Robyn.
»Oh. Ja. Na gut. Wer nimmt mich in die Mangel?«, fragte ich in die Runde; dann, als mir bewusst war, was ich da sagte, schoss ich meinen deutlichsten »Wag-es-ja-nicht«-Blick auf Homer ab. Gerade noch rechtzeitig, denn die Antwort saß ihm schon auf den Lippen.
»Das mache ich«, meldete sich Robyn. Sie dachte einen Moment nach, dann sagte sie: »Du hörst besser zu als früher. Und du nimmst andere Menschen besser wahr. Du bist mutig. Meiner Meinung nach bist du die Mutigste von uns allen.
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