Ein endloser Albtraum (German Edition)
wirklich die Hölle zu sein. Zum Beispiel jetzt.«
Ich wusste nicht, warum ich so redete. Das alles kam zu unerwartet. Es war ein Gespräch, für das ich noch nicht bereit war. Wahrscheinlich habe ich die Dinge gern unter Kontrolle und Lee hatte mir dieses Gespräch zu einer Zeit und an einem Ort aufgezwungen, die er gewählt hatte. Ich wünschte, Corrie wäre hier gewesen, damit ich zu ihr gehen und mit ihr darüber reden konnte. Lee war so intensiv, dass er mir Angst machte, aber gleichzeitig fühlte ich etwas Starkes, wenn er in der Nähe war – ich wusste nur nicht, was es war. Ich war immer sehr wach, wenn ich ihm nahe war. Meine Haut fühlte sich wärmer an, ich beobachtete ihn aus den Augenwinkeln, richtete meine Bemerkungen an ihn, nahm seine Reaktionen wahr, hörte mehr auf seine Worte als auf die jedes anderen. Wenn er einer Meinung Ausdruck verlieh, dachte ich genauer darüber nach, maß ihr mehr Gewicht bei als zum Beispiel den Ansichten von Kevin oder Chris. Ich dachte nachts in meinem Schlafsack oft über ihn nach, und weil ich auch beim Einschlafen an ihn dachte, neigte ich dazu, von ihm zu träumen. Es kam so weit – das klingt jetzt dumm, ist aber wahr –, dass ich ihn mit meinem Schlafsack in Verbindung brachte. Wenn ich den einen ansah, dachte ich an den anderen. Das bedeutet nicht unbedingt, dass ich ihn in meinem Schlafsack haben wollte, aber im Geist gehörten sie für mich zusammen. Ich lächelte beinahe, als ich daran dachte, und fragte mich, was für ein Gesicht er machen würde, wenn er plötzlich meine Gedanken lesen könnte.
»Denkst du noch immer oft an Steve?«, fragte er.
»Nein, nicht an Steve. Das heißt, ich denke genauso an ihn wie an viele andere Leute, frage mich, ob es ihnen gut geht, und hoffe, dass es der Fall ist, aber ich denke nicht so an ihn, wie du es meinst.«
»Wenn ich dich also nicht beleidigt habe und du nicht mehr mit Steve zusammen bist – wo bleibe ich dann?«, fragte er aufgebracht. »Magst du mich einfach als Mensch nicht?«
»Nein«, antwortete ich, entsetzt von dieser Idee, aber gleichzeitig auch ein wenig verärgert, weil er mich in eine Beziehung drängen wollte. Das tun Jungs immer. Sie wollen endgültige Antworten – vorausgesetzt, es sind die richtigen –, und sie glauben, dass sie nur hartnäckig genug sein müssen, um ihr Ziel zu erreichen.
»Hör mal«, sagte ich. »Es tut mir leid, dass ich dir keine Liste meiner Gefühle für dich geben kann, nach Punkten geordnet und in alphabetischer Reihenfolge. Aber ich kann es einfach nicht. Ich bin vollkommen verwirrt. Der Tag im Heuschober war kein Zufall. Es bedeutete etwas. Ich versuche noch immer herauszufinden, was.«
»Du sagst, dass du nichts gegen mich hast«, sagte er langsam, als versuche er zu verstehen. Er sah mich nicht an und war sehr nervös, aber er steuerte offensichtlich auf eine wichtige Frage zu. »Heißt das also, dass du mich magst?«
»Ja, Lee, ich mag dich sehr. Aber im Augenblick machst du mich wahnsinnig.« Es war komisch, wie oft ich daran gedacht hatte, dass wir dieses Gespräch führen würden, aber jetzt, wo es so weit war, wusste ich nicht, ob ich das sagte, was ich sagen wollte.
»Ich habe bemerkt, dass du Homer – irgendwie besonders ansiehst, seit wir hier sind. Hast du etwas für ihn übrig?«
»Wenn dem so wäre, würde es nur mich etwas angehen.«
»Weil ich glaube, dass er nicht der Richtige für dich ist.«
»Ach, Lee, du bist heute so lästig. Vielleicht hättest du nicht versuchen sollen mit diesem Bein zu gehen. Ich glaube wirklich, dass es dein Gehirn angegriffen hat. Schieben wir es darauf oder aufs Wetter oder sonst was, weil ich nicht dein Eigentum bin und du kein Recht hast zu entscheiden, wer für mich gut oder schlecht ist, vergiss das nicht.« Ich stürmte wütend auf die andere Seite der Lichtung, wo Fi und Homer ein Gehege für die Hühner angelegt hatten. Die Hühner waren bereits darin und wirkten entsetzt, vielleicht wegen meines Wutanfalls, wahrscheinlich aber, weil sie sich fragten, was zum Teufel sie dort zu suchen hatten.
Ich sah den Hühnern eine Zeit lang zu, dann ging ich über die Lichtung zu der Stelle, an der der Bach sich im dichten Busch verliert und in einem dunklen Tunnel aus Unterholz verschwindet. Ich hatte schon einige Tage lang daran gedacht, hier ein bisschen herumzuforschen, auch wenn es so aussah, als wäre das unmöglich. Jetzt war der richtige Augenblick, es zu versuchen. Ich konnte meinen Zorn abreagieren und mich
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