Ein Engel an Güte (German Edition)
entfernt war, dass von den Geräuschen der Stadt nur noch diffuse Laute herüberdrangen, schwenkte sie nach links und hielt in gerader Linie auf die Spitze des Arsenals zu. In dieser dunklen Stille war von dem großen Gedränge an der Riva degli Schiavoni für die Sinne nur so viel vernehmbar, wie vielleicht bloße Geister von den Dingen dieser Welt noch wahrnehmen mögen: ein leises Murmeln, ein Gewimmel von schwarzen Punkten rings um die wenigen Laternen, das war alles, was man von der unendlichen Menge hörte und sah. Darüber erhoben sich, ein Mahnmal aus anderen Zeiten, die bizarren Zinnen des Dogenpalasts und die byzantinischen Kuppeln von San Marco, sodass von nah und fern die Majestät dieser Gebäude der Kleinheit der Menschen Hohn zu sprechen schien. Ob in einem der Säle dieses Palasts der Doge das abendliche Sette e mezzo eröffnete; ob auf einem anderen Stockwerk der Rat der Zehn über die beste Ausrede beratschlagte, um sich aus dem Erbfolgekrieg heraushalten zu können, der zwischen dem Reich, Neapel und Spanien ausgefochten wurde; ob weiter unten ein kleiner Schwindler, von der kindischen Furcht der Patrizier zu einem Masianello 57 aufgebläht, in seinem Verlies schmachtete; ob unter den Prokurazien Edelleute ihren Klienten, Mittelsmännern und Wucherern Audienz gewährten; ob sich in den Regimentern Spione und Kuppler um die Fahnen scharten; ob all diese Menschen den Rest ihres Tages allenthalben mit Dummheit, Unzucht und Nichtigkeiten hinbrachten – was kümmerte das Celio, der sich ganz allein in Gesellschaft eines so reizenden und begehrten jungen Mädchens befand? Tausende Male hatte er mit diesem Rezept seinen Magen beschwichtigt, der gegen die Schande aufbegehrte – und doch seufzte er beim Blick auf Venedig. Dann aber kehrte er dem Schauspiel den Rücken und wandte sich, als wolle er sich ganz dem einzigen Entzücken an seiner Seite widmen, seiner Begleiterin zu. Doch diesmal verfolgten ihn derlei Gedanken auch bis in die Schlupfwinkel der Liebe, und er seufzte noch tiefer auf.
Fast schien Morosina sich über diese Seufzer zu freuen, vielleicht, weil sie den Freund damit bei etwas ertappte, was sie sich in den vergangenen Tagen selbst oft zum Vorwurf gemacht hatte. Und wenn diese Seufzer einen Gleichklang der Gefühle erkennen ließen, so hatte das Mädchen allen Grund, sich darüber zu freuen. Die Genugtuung, die sie darüber empfand, kam in einem abermaligen Seufzer zum Ausdruck, und Celio wandte sich scherzend an sie:«Seine Exzellenz hat uns befohlen, fröhlich zu sein, nicht zu seufzen. Und die Befehle eines Inquisitors müssen auf das Gewissenhafteste befolgt werden. Nun, so wollen wir also fröhlich sein», fuhr er fort, indem er näher an sie heranrückte.«Es sollte uns nicht schwer fallen. Erinnert Ihr Euch nicht, wie viele Stunden wir spielend miteinander verbracht haben? Und wie wir zusammen gelacht haben, hm, Morosina? Man braucht nur eine Dreiviertelstunde von jenen köstlichen Jahren herzunehmen und wiederzubeleben, und ich bin mir sicher, wir werden im Nu Lust bekommen, noch viele andere wiederauferstehen zu lassen.»
Jeder aufgeweckte Zeitgenosse hätte, wäre ihm von einem Inquisitor so unverhohlen ein nächtliches Stelldichein angeboten worden, wer weiß welchen tödlichen Hinterhalt unter den Lilien und Rosen gewittert, und wenn er auch nicht weiter nach dem Wie und Warum forschte, wäre er doch sehr auf der Hut gewesen und hätte sich auf eine so heikle Geschichte nicht eingelassen. Celio aber war in einer anderen Schule groß geworden. Gewohnt, für seine Vergnügungen jegliche Vorsicht fahren zu lassen (in besseren Zeiten eine tadelnswerte Eigenschaft, damals jedoch ein Merkmal einzigartiger Tugend), achtete er nicht auf die leisen Warnrufe der Angst; im Gegenteil, aufgrund seiner natürlichen Kühnheit und dank eines unerklärlichen Zaubers, der an jenem Abend Morosinas Augen entströmte, fühlte er seine hochheiligen Vorsätze zur Keuschheit schwinden und die Flamme seines lang gehegten Begehrens auflodern. So vergaß er alles um sich herum, einzig dessen eingedenk, dass die heiß geliebte Morosina und er alleine waren.«Wisst Ihr», hob er wieder an, als er sah, dass sie keine Anstalten machte, das Schweigen zu brechen,«wisst Ihr, meine liebe Morosina, dass ich in den drei gemeinsamen Jahren unserer Kindheit mehr gelebt habe als in den darauffolgenden zwölf Jahren? Wahrhaftig, im Geiste bin ich immer noch dort... und mit dem Herzen auch!», fügte er nach einer
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