Ein Engel im Winter
Langsam holte sie aus ihrem Rollkragenpullover eine kleine Kette hervor, an der ein weißgoldener Ring hing.
»Ich trage meinen Ehering auch noch, Nathan Del Amico, aber das beweist überhaupt nichts.«
Jetzt füllten sich ihre Augen mit Tränen. Sie versuchte trotzdem zu sagen, was sie zu sagen hatte. »Und falls du Vince meintest, glaub mir, er hat nichts mit uns zu tun.«
Dann fügte sie mit einem Schulterzucken hinzu: »Falls du im Übrigen nicht bemerkt haben solltest, dass ich diesen armen Kerl nur ausnutze, dann bist du nicht sonderlich scharfsinnig.«
»Ich verliere oft meinen Scharfsinn, wenn es um dich geht.«
»Ich bediene mich seiner. Ich bin nicht sehr stolz darauf, aber ich benutze ihn. Dieser Typ besitzt so viel Kohle, und wenn ich etwas tun kann, damit er einen Teil davon hergibt, um Bedürftigen zu helfen, dann will ich ihn gern in alle Restaurants der Welt begleiten.«
»Das ist eine sehr zynische Handlungsweise«, bemerkte er.
Sie lächelte traurig.
»Zynismus und Dreistigkeit sind die beiden Grundpfeiler des Geschäfts. Sie selbst haben mir das beigebracht, Herr Anwalt, haben Sie das vergessen?«
Sie zog ein Päckchen Kleenex aus ihrer Tasche und trocknete sich die Tränen ab. Er traute sich nicht mehr, auf sie zuzugehen, aus Angst, zurückgewiesen zu werden. Stattdessen lief er schweigend durch den Raum, öffnete das Fenster und atmete die frische Luft ein. Die schweren dunklen Wolken schienen sich nach Norden zu verziehen. »Es regnet kaum noch«, bemerkte er, um die Spannung zu lösen.
»Was schert mich der Regen«, gab Mallory zurück.
Er betrachtete sie aufmerksam. Ihre Wangen waren hohl und ihre Haut blass, beinahe durchsichtig. Er wollte ihr sagen, dass sie immer den ersten Platz in seinem Leben eingenommen hatte und dass sie diesen Platz für immer behalten würde. Doch er stieß lediglich hervor:
»Das weiß ich alles, Mallory.«
»Was weißt du?«
»Alles, was du gerade gesagt hast: dass das Glück sich nicht auf materielles Wohlergehen beschränkt, dass Glück vor allem darin besteht, zu teilen, Freude und Ärger zu teilen, dasselbe Dach und dieselbe Familie zu teilen … Ich weiß das alles … jetzt.«
Er breitete als Zeichen seiner Ohnmacht die Arme aus und lächelte verlegen.
Sie betrachtete ihn nachsichtig. Wie er so da stand, erinnerte er sie an den kleinen Jungen, der er einst gewesen war und dem sie nicht hatte widerstehen können.
Für den Augenblick unterließ sie ihre Vorwürfe und schmiegte sich an ihn. Es war nicht nötig, so ungerecht zu ihm zu sein, denn sie wusste, dass Nathan sich nach Seans Tod in die Arbeit gestürzt hatte, weil das der einzige Trost gewesen war, den er in seiner Trauer gefunden hatte.
Sie konnte ihn dafür nicht bestrafen, selbst wenn es ihr Leid tat, dass sie es nicht geschafft hatten, zusammenzubleiben, nachdem sie dasselbe Schicksal erlitten hatten.
Sie schloss die Augen. Er war noch nicht fort, aber sie wusste bereits, dass sie seine Abwesenheit in wenigen Minuten schmerzlich empfinden würde. Für die Biologen beschränkt sich ein großer Teil der Liebe auf einen Austausch zwischen Molekülen und chemischen Substanzen, die im Innern des Gehirns freigesetzt werden und Begierde und Anziehung auslösen. Wenn das der Fall ist, dann spielte sich dieser Vorgang jedes Mal ab, wenn sie ihn berührte.
Sie hätte sich gewünscht, dass dieser Augenblick mindestens eine Ewigkeit dauerte. Trotzdem unternahm sie die unglaubliche Anstrengung, die Berührung zu beenden. Es war nicht der richtige Augenblick. Sie fühlte sich von ihm angezogen, aber sie war furchtbar wütend auf ihn.
»Du musst gehen, sonst verpasst du den letzten Flieger«, sagte sie und löste sich von ihm.
Er stand auf der Türschwelle und konnte sich nicht entschließen zu gehen. Das Taxi, das er gerufen hatte, wartete schon seit fünf Minuten mit laufendem Motor.
Wie sollte er ihr erklären, dass dies vielleicht ihr letzter Abschied war, ihr letztes Lächeln, das letzte Mal, dass sie sich berührten?
»Wenn mir etwas geschehen sollte, dann möchte ich wirklich, dass du …«
»Red keinen Unsinn«, unterbrach sie ihn.
»Das ist kein Unsinn, Mallory, stell dir vor, dass …«
»Ich sage dir, dass wir uns wiedersehen werden, Nat. Ich verspreche es dir.«
Sie hatte ihn nie belogen, und er hätte ihr gern glauben wollen, sogar dieses Mal.
Sie hauchte einen Kuss auf ihre eigene Handfläche und strich dann sanft über die Wange ihres Mannes.
Er stieg ins Taxi, drehte
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