Ein Ex, ein Kuss - und neues Glück?
in ein Heim steckt …“
Sie hielt inne. Über diese Erinnerungen hatte sie schon so lange nicht mehr gesprochen. Nicht, seit Phoebe und Michael sie beim Sozialamt abgeholt und zu sich genommen hatten. Nicht, seit Josh ihr seinen Ersatzhelm zugeworfen und sie auf seinem Motorrad zur Schule gebracht hatte. Nur ihre Angst davor, morgens aufzuwachen und nicht zu wissen, wo sie war, tauchte immer wieder auf. Besonders dann, wenn sie unterwegs war, zum Beispiel auf einer Kunsthandwerksmesse.
„Im Kühlschrank steht übrigens noch Saft“, sagte sie zu Josh, der bereits auffällig lange schwieg. Offenbar war er sprachlos.
„Warum hast du mir nie etwas davon erzählt?“, erkundigte er sich und schenkte ihnen Orangensaft ein. „Ich meine … ich wusste ja, dass deine Mutter so eine Art Nomadin war und hin und wieder mit dem Gesetz in Konflikt geraten ist. Und dass Phoebe das Sorgerecht übernommen hat, damit du endlich ein festes Zuhause hast. Aber von dem Rest hast du mir nie etwas erzählt.“
Dazu sagte sie nichts.
„Dabei waren wir doch gute Freunde.“
Ja, das waren wir, dachte sie. Aber wenn man einmal vollkommen nackt neben einem Mann gelegen hat, alle schützenden Hüllen hat fallen lassen … ist nichts mehr wie vorher, dachte sie. „Willst du damit etwa behaupten, dass du mir immer alles über deine Vergangenheit erzählt hast?“, gab sie flapsig zurück.
„Jedenfalls alles, was mir wichtig vorkam. Mit jemand anders konnte ich über meine Eltern nicht so reden wir mit dir, das müsste dir doch klar sein.“
Grace wusste tatsächlich eine Menge über seine Vergangenheit. Sie wusste, wie sehr es ihn verletzt hatte, dass sein Vater die Familie verlassen hatte. Und was er hatte durchmachen müssen, als seine Mutter ein halbes Jahr später mit ihrem neuen Liebhaber ans andere Ende der Welt geflogen war.
Einige Wochen, nachdem sie bei Phoebe und Michael eingezogen war, war ein Brief aus Japan für ihn angekommen. Sie fand das unheimlich aufregend und brachte den Umschlag sofort zu ihm in den Garten.
Josh schaute den Brief nur kurz an, dann zerriss er ihn – ungeöffnet.
Grace schrie vor Schreck leise auf.
„Der Brief war von meiner Mutter“, sagte er, als würde das alles erklären. „Sorry“, fügte er noch hinzu. „Wolltest du dir die Briefmarke ablösen?“
Offenbar hatte er sich alle Mühe gegeben, die Worte beiläufig klingen zu lassen. Aber an seiner zitternden Stimme und seinen glänzenden Augen hatte sie sofort gemerkt, was in ihm vorging. Und so hatte sie ihm die dünnen Arme um den Hals geschlungen und ihn fest an sich gedrückt, während er seinen Tränen freien Lauf ließ.
In diesem Moment waren sie sich so nah gewesen wie nie zuvor, und wie sie es auch nie wieder sein würden. Noch näher sogar als in dem Augenblick, als sie gemeinsam Erfüllung gefunden hatten.
„Und?“, hakte er jetzt nach. „Warum hast du mir nie erzählt, wie es damals war, mit deiner Mutter?“
„Ich hatte Angst.“
„Angst?“
Grace hatte immer befürchtet, dass Josh genauso auf sie herabschauen würde wie die anderen Kinder, wenn sie ihm die ganze Wahrheit erzählte. „Mir war es am liebsten, wenn niemand über meinen Hintergrund Bescheid wusste. Ich dachte, die Leute würden nicht wollen, dass jemand wie ich hier in diesem schönen Haus wohnt. Dass sie mich vertreiben würden und Phoebe gleich mit.“
„Aber das ist doch völlig lächerlich.“
Er hatte ja keine Ahnung, wie sich die Leute manchmal verhielten! Gerade wenn sie sich von Menschen bedroht fühlten, deren Lebensstil nicht ihrem eigenen entsprach.
„Inzwischen ist mir auch klar, dass Michael das nie zugelassen hätte. Dass er sich von dem Gerede nie hätte beeinflussen lassen.“
Allerdings hatte sie sich oft gefragt, was Michaels Eltern wohl von Phoebe hielten. In Maybridge waren die beiden jedenfalls nie aufgetaucht, und Michael hatte sie auch nicht zu Posies Taufe einladen wollen. „Ich glaube, mir war damals noch nicht hundertprozentig klar, was dein Bruder für ein besonderer Mensch war“, sagte sie.
Josh seufzte. „Jetzt ist es wohl an uns, Posie eine glückliche Kindheit zu schenken, oder?“, sagte er. „Mit lauter schönen Erinnerungen.“
„Und wie genau willst du da vorgehen? Willst du sie alle paar Wochen von irgendeinem exotischen Ort aus anrufen, den du gerade bereist? Und ihr von den Palmen und den weißen Stränden erzählen? Du könntest ihr natürlich auch Postkarten schicken“, fuhr Grace fort. „Da
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