Ein Fall für Kay Scarpetta
wem sie zu Hause gesprochen haben könnte. Ich konnte mir nicht vorstellen, daß sie mit meiner Schwester ein sinnvolles Gespräch geführt hatte. Dorothy und ihre Kinderbücher waren von vielen Kritikern als "außerordentlich einfühlend" und "tief " und "gefühlvoll" gelobt worden. Was für eine schreckliche Ironie! Dorothy erfand jugendliche Charaktere, die es nicht gab. Sie hegte und pflegte sie. Sie verbrachte Stunden damit, sich mit jedem kleinen Detail von ihnen zu beschäftigen, wie sie ihr Haar trugen, welche Kleider sie liebten, ob sie Kummer hatten und wie sie sich bewegten. Und währenddessen hungerte Lucy nach ein wenig Aufmerksamkeit.
Ich dachte an die Stunden, die ich mit Lucy zusammen verbracht hatte, als ich noch in Miami lebte, an die Ferien mit ihr, meiner Mutter und Dorothy. Ich dachte an Lucys letzten Besuch hier. Ich konnte mich nicht erinnern, daß sie jemals Namen von Freunden erwähnte. Ich glaube nicht, daß sie welche hatte. Sie redete über ihre Lehrer, über die männlichen Freunde ihrer Mutter, Mrs. Spooner von gegenüber, den Gärtner Jake und die endlose Liste von Hausmädchen. Lucy war ein kleines, bebrilltes, altkluges Mädchen, über das sich ältere Kinder ärgerten und das gleichaltrige nicht verstehen konnten. Ich glaube, ich war in diesem Alter genau wie sie gewesen.
Eine wundervolle, friedliche Wärme machte sich in uns breit. Ich sagte in ihr Haar: "Jemand hat mich neulich etwas gefragt."
"Worüber?"
"Über Vertrauen. Jemand fragte mich, ob es jemanden gäbe, dem ich mehr als irgend jemandem sonst auf der Welt vertrauen könnte.
Und weißt du, was?"
Sie legte ihren Kopf zurück und sah hoch zu mir auf. "Ich glaube, du bist dieser Mensch."
"Glaubst du das wirklich?" fragte sie ungläubig. "Mehr als irgend jemandem?"
Ich nickte und fuhr ruhig fort: "Und da es so ist, werde ich dich um deine Hilfe bitten."
Sie setzte sich auf und starrte mich an, ihre Augen wach und voller Begeisterung. "O sicher! Frag mich nur! Ich werde dir helfen, Tante Kay!"
"Ich muß herausbekommen, wie es jemand geschafft hat, in meinen Computer in der Stadt hineinzukommen ... "
"Ich war es nicht", platzte sie sofort heraus, mit einem verletzten Ausdruck auf dem Gesicht. "Ich habe dir schon gesagt, daß ich es nicht war."
"Das glaube ich dir. Aber irgend jemand war es, Lucy. Vielleicht kannst du mir helfen, das herauszukriegen?" Ich glaubte nicht, daß sie das konnte, aber ich hatte das plötzliche Verlangen, ihr eine Chance zu geben.
Aufgeregt und voller Energie sagte sie selbstsicher: "Das kann jeder tun, weil es einfach ist."
"Einfach?" Ich mußte lächeln.
"Wegen System/Manager."
Ich starrte sie mit offener Verwunderung an. "Woher weißt du von System/Manager?"
"Es steht in dem Buch. Er ist Gott."
Solche Situationen erinnerten mich an den beunruhigend hohen IQ von Lucy. Das erste Mal, als sie einen IQ-Test gemacht hatte, hatte sie eine so hohe Punktzahl, daß der Beaufsichtigende darauf bestand, daß sie ihn wiederholen sollte, da es "irgendeinen Fehler" geben müsse. Es hatte einen gegeben. Das zweite Mal bekam Lucy noch zehn Punkte mehr.
"So kommt man zunächst in SQL hinein", plapperte sie weiter. "Siehst du, du kannst keine Autorisation erstellen, wenn du keine hast, mit der du anfangen kannst. Deshalb gibt es System/Manager. Gott! Du kommst mit Ihm in SQL, und dann kannst du erstellen, was du willst."
Alles, was du willst... ich begriff langsam. Das betraf auch alle Benutzernamen und Kennwörter, die meinen Büros zugeteilt waren. Das war eine furchtbare Enthüllung, so einfach, daß es mir niemals in den Sinn gekommen wäre. Ich schätze, auch Margaret wäre nie darauf gekommen.
"Alles, was einer tun muß, ist, irgendwie hineinzukommen", fuhr Lucy sachlich fort. "Und wenn er über >Gott< Bescheid weiß, dann kann er jede Autorisation erstellen, die er will, sie zum DBA machen, und dann kann er deine Datenbasis lesen."
In meinem Büro hieß der Datenbasisadministrator, oder DBA, "DEEP/THROAT". Margaret hatte manchmal Sinn für Humor.
"Du kommst also in SQL, indem du System/Manager anschließt, darin tippst du: GRANT CONNECT, RE-SOURCE, DBA TO TANTE IDENTIFIED BY KÄY."
"Vielleicht ist es das, was passiert ist", dachte ich laut. "Und mit dem DBA konnte derjenige nicht nur die Daten sichten, sondern sogar verändern."
"Sicher! Er konnte alles machen, weil >Gott< ihm gesagt hat, daß er es kann. Der DBA ist >Jesus<."
Ihre theologischen Entlehnungen waren so abscheulich, daß
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