Ein Fall für Kay Scarpetta
alle Untergruppen bestimmen können. Es stimmt mit Henna Yarboroughs Blut überein. Die DNS müßte das bestätigen können, aber das dauert vier bis sechs Wochen."
Ich bemerkte abwesend: "Wir müssen die Bestände im Labor auffrischen."
Ihr Blick verweilte auf mir und wurde weich. "Sie sehen sehr müde aus, Kay."
"Man sieht es, nicht wahr?"
"Ich sehe es."
Ich antwortete nicht.
"Lassen Sie sich nicht zu sehr von dieser Geschichte fertigmachen. In dreißig Jahren Arbeit hier habe ich einiges mitgekriegt... "
"Was hat Wingo vor?" platzte ich heraus.
Sie zögerte, überrascht. "Wingo? Nun ..."
Ich starrte auf ihre Tasche.
Sie lachte verlegen und klopfte darauf. "Oh, das. Nur eine kleine private Arbeit, um die er mich gebeten hat." Mehr wollte sie offensichtlich nicht sagen. Vielleicht hatte Wingo andere ernsthafte Sorgen in seinem Leben. Vielleicht ließ er heimlich einen HIV-Test machen. Großer Gott, hoffentlich hatte er kein Aids.
Ich sammelte meine Gedanken zusammen und fragte: "Was ist mit den Fasern? Irgend etwas gefunden?"
Betty hatte die Fasern des Overalls mit den Fasern, die wir bei Lori Petersen zu Hause und auf Henna Yarboroughs Leiche gefunden hatten, verglichen.
"Die Fasern, die wir in Lori Petersens Fensterrahmen gefunden haben, könnten von dem Overall stammen", erklärte sie, "aber sie können auch von jedem anderen dunkelblauen Stoff aus Baumwollmischgewebe sein."
Vor Gericht, dachte ich bitter, wird dieser Vergleich völlig unbedeutend sein, da der Stoff ungefähr so spezifisch war wie Schreibmaschinenpapier aus dem Kaufhaus - wenn man anfinge, danach zu suchen, fände man ihn überall. Er könnte von irgendeiner Arbeitshose stammen. Im Endeffekt konnte er sogar von einer Uniform eines Sanitäters oder eines Polizeibeamten sein. Es gab noch eine Enttäuschung. Betty war sicher, daß die Fasern, die ich auf Henna Yarboroughs Leiche gefunden hatte, nicht von dem Overall stammten.
"Sie sind aus Baumwolle", sagte sie. "Sie könnten von einem Kleidungsstück sein, das sie an diesem Tag getragen hatte, oder sogar von einem Badehandtuch. Wer weiß? Die Menschen tragen alle möglichen Stoffe auf ihrem Körper. Ich bin nicht überrascht, daß der Overall keine Fasern hinterlassen hat."
"Warum?"
"Weil gewebte Stoffe, wie der des Overalls, sehr weich sind. Sie hinterlassen selten Fasern, es sei denn, der Stoff kommt mit etwas Rauhem in Berührung."
"Wie zum Beispiel ein Fenstervorsprung aus Mauerwerk oder ein rauher Holzrahmen wie in Loris Fall."
"Möglich, und die dunklen Fasern, die wir in ihrem Fall gefunden haben, könnten von einem Overall stammen. Vielleicht sogar von diesem hier. Aber ich glaube nicht, daß wir das jemals erfahren werden."
Ich ging wieder nach unten in mein Büro und setzte mich für eine Weile an meinen Schreibtisch, um nachzudenken. Ich schloß die Schublade auf und holte die Akten der fünf ermordeten Frauen heraus.
Ich fing an, nach Dingen zu suchen, die mir entgangen sein könnten. Noch einmal suchte ich verzweifelt nach einer Verbindung. Was hatten diese fünf Frauen gemeinsam gehabt? Warum wählte der Mörder sie aus? Wie kam er mit ihnen in Berührung? Es mußte ein Bindeglied geben. Ich glaubte nicht an eine zufällige Auswahl, daß er einfach herumfuhr und nach möglichen Opfern Ausschau hielt. Ich glaubte, daß er sie aus einem bestimmten Grund auswählte. Er kam zunächst irgendwie mit ihnen in Kontakt und folgte ihnen dann vielleicht nach Hause.
Geographische Gegebenheiten, Arbeitsstellen, Sportvereine. Es gab keinen gemeinsamen Nenner. Dann versuchte ich es mit dem, was die Frauen am meisten unterschied, und ich griff nach Cecile Tylers Akte.
Sie war schwarz. Die vier anderen Opfer waren weiß. Ich war von Anfang an durch diese Tatsache irritiert gewesen, und sie irritierte mich immer noch. Hatte der Mörder einen Fehler gemacht? Vielleicht hatte er nicht bemerkt, daß sie schwarz war. Hatte er es in Wirklichkeit auf jemand anderen abgesehen gehabt? Auf ihre Freundin Bobbi zum Beispiel? Ich blätterte die Seiten durch und las noch einmal den Autopsiebericht, den ich diktiert hatte. Ich überflog Bescheinigungen von Beweismaterial, Telefonnotizen und eine alte Krankenhausakte vom St. Luke's, wo sie vor fünf Jahren wegen einer Bauchhöhlenschwangerschaft behandelt worden war. Als ich zum Polizeibericht kam, suchte ich nach dem Namen der einzigen Verwandten, einer Schwester in Madras, Oregon. Von ihr hatte Marino die Information über Ceciles Privatleben
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