Ein falscher Traum von Liebe: Der lange Weg aus der Hölle meiner Kindheit (German Edition)
gefesselt, brutal verprügelt und vom eigenen Mann und dessen Saufkumpanen mehrfach vergewaltigt. Frauen saßen auf der Wache, deren Gesicht förmlich zu Brei geschlagen worden war und die nicht mal mehr Kraft für eine einzige Träne hatten. Frauen, deren Anzeigen ich akribisch schrieb und die am nächsten Tag wieder auf der Wache standen und ihre Anzeige zurückzogen. Als der Polizei endlich die Befugnis gegeben wurde, prügelnde Männer aus den Wohnungen zu schmeißen und ihnen für zehn Tage ein Rückkehrverbot zu erteilen, war das für viele Frauen ein Segen.
Zum ersten Mal in meinem Leben wurde mir nachhaltig bewusst, dass mir bei allem, was ich erlebt hatte, viel erspart geblieben war. Zum Glück.
Ich sah so viel Leid, aber eines sah ich nie: missbrauchte Kinder. Ich sah niemals auch nur ein misshandeltes Kind. Die Kolleginnen und Kollegen in den zuständigen Fachkommissariaten sehen solche Kinder jedoch täglich. Aber wir? Die Polizisten auf der Straße?
Wohl überkam mich manches Mal ein komisches Gefühl. Das Gefühl, das mit der präsentierten heilen Fassade irgendetwas nicht stimmte. Ein kurzer »anderer« Blick aus Kinderaugen, eine unbestimmte Geste, ein allzu aggressives oder auch allzu introvertiertes Verhalten. Und wenn ich dann mal mein Gefühl gegenüber den Kollegen äußerte, reagierten sie fast alle gleich.
»Ich habe doch mit dem Vater gesprochen! Der war supernett! Hast du das Haus gesehen? Der Typ ist Oberstudienrat. Neeeeee! DAS glaube ich nicht!«
Aber es gibt sie, diese Kinder. Es gibt misshandelte, fast zu Tode geprügelte und unvorstellbaren Seelenqualen ausgesetzte Kinder. Es gibt sie, die Kinder, die täglich, wöchentlich ihren Missbraucher ertragen müssen.
Als Polizistin der Straße sehe ich sie als Erwachsene: in den Wohnungen der Alkoholiker, der Junkies, der Gestrandeten; am Straßenstrich und in den Bordellen; als Opfer auf der Wache mit blau geschlagenem Körper.
Wo waren sie als Kinder? Als Opfer, die noch am Beginn ihrer desaströsen »Karriere« standen? Sie waren wie ich damals: perfekt in der Tarnung. Perfekt im Lügen. Perfekt darin, ihren Missbracher zu schützen. Ich möchte wissen, vor wie vielen missbrauchten Kindern ich bisher schon gestanden habe. Ich möchte wissen, wie viele Kinderaugen schüchtern zu der Frau in der Polizeiuniform hochgeschaut haben und vielleicht hofften, dass ich sie endlich aus ihrer hoffnungslosen Lage heraushole! WIE VIELE? Ich möchte es wissen!
Die Anblicke unzähliger menschlicher Schicksale belasteten mich nicht in dem Maße, mit dem ich gerechnet hatte. Ich zog meine eigenen Lehren daraus und habe bis heute meine eigene Art, mit diesen Bildern zurechtzukommen. Immer wieder relativiert sich dann mein eigenes Leben. Ich hatte das unglaubliche Glück (oder das unglaubliche Gespür?), als erwachsene Frau ausschließlich an Männer zu geraten, die mir nicht geschadet haben. Selbst Léon, der alte Choleriker, war mit den Männern, die ich im Polizeialltag mit dem größten Vergnügen in die Zelle schleppe, in nichts zu vergleichen. Ich hatte mit Felix einen ebenso lieben wie geduldigen Mann gefunden. Ich hatte eine Arbeit, mit der ich auf »redliche« Weise mein Geld verdienen konnte. Ich hatte das Geld, mein Pferd und meine wunderschöne Wohnung finanzieren zu können. Das tägliche Ambiente des Bauernhofs stand im krassen Gegensatz zu dem Lärm der Stadt und dem Gestank in den vielen Behausungen.
Felix wohnte nicht gern bei mir, war nach wie vor lieber bei seinen Eltern, schmiedete keine Zukunftspläne, machte mir keinen Antrag und wünschte sich kein Kind.
Wie sehr hatte ich darauf gehofft, dass sich der Mann meiner Träume eines Tages ein Kind wünschen würde? Gegen Ende meiner Ausbildung hatte ich Felix förmlich erpresst: Sex ja – Verhütung nein! Das Gefühl war einfach schlecht. Richtig schlecht.
In der Polizeischule diskutierten alle bereits über die Versetzungen, die mit den Abschlussprüfungen einhergingen. Es gab Städte, die waren schier unerreichbar für uns. Zum damaligen Zeitpunkt gehörte Ruhrstadt auch dazu. Die Chancen stiegen mit Wartepunkten, die man im Laufe der Jahre sammeln konnte. Das Punktekonto konnte aber mit einer Heirat oder einer Familiengründung mächtig aufgefrischt werden. Stichtag für dieses Punktekonto war der 20. Januar, der Geburtstag von Felixʼ Mutter.
Ich erzählte Felix von meiner Sorge. Ich äußerte freimütig meine Angst vor einer räumlichen Trennung, die Angst, dass unsere
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